Neulich fand ich einen Staffelstab. Aus Metall. Er ist dreißig Zentimeter lang, hat einen Durchmesser von vier Zentimetern und ist innen hohl. Er lag versteckt in einem Bücherregal, hinter allerlei wichtigen und weniger wichtigen Werken. Vermutlich ist er da irgendwann einmal aus Versehen heruntergekullert. Und niemand bemerkte es. Vor langer, langer Zeit. Eingestaubt war er. Verloren irgendwie. Ich fand ihn zufällig. Gesehen hatte ich ihn noch nie.
Ich nahm den Stab in die Hand, wischte ihn an meinem Pullover sauber und hielt ihn mir vor die Augen. Wie ein Fernrohr. Etwas steckte darin. Ein Wattebausch-Staubfussel konnte es nicht sein, dafür war das Etwas zu groß. Und zu wenig verstaubt. Von der Form her. Ich schüttelte den Stab. Langsam. Vorsichtig. Das Etwas fiel zu Boden.
Es war eine Figur. Ein Torso. Ohne Kopf, ohne Hände, ohne Unterschenkel, ohne Füße. Aus Papier. Aus geschöpftem Papier. Ich schmunzelte. Typisch Andreas, dachte ich. Und schob das Läuferlein mit einem Ast zurück in den Stab.
Denn ich wusste längst, dass der Staffelstab mit dem Männlein ein Kunstwerk von ihm ist. Ein zurückgelassenes, in Vergessenheit geratenes Werk aus dem Jahr 2000. Der Bildhauer-Bruder hat viel mit Papier gearbeitet. Er schuf Gegenstände aus Papier. Schöpfen nennt man das. Wie der Schöpfergott einst Himmel und Erde schuf. Und alles, was dazugehört.
Das allein war schon seltsam. Noch seltsamer war, dass ich den Stab entdeckte, als ich Andreas besonders vermisste. Tagelang hatte ich an ihn gedacht. War an seinem Grab gewesen. Wehmütig. Traurig. Bis ich das Kunstwerk fand. Es war, als habe der Bruder sich gezeigt. Als habe er mir den Staffelstab in die Hand gedrückt und gesagt: Jetzt bist du dran. Denk an mich. Lauf los und lebe dein Leben. Sechzehn Jahre nach seinem Tod war er auf einmal da. Um mich auf den Weg zu schicken.
Und ich dachte an Ostern und an die Auferstehung. An die Begegnung von Maria Magdalena und Jesus. Als sie ihn nicht erkennt. Und dann sagt: Rabbuni! Und an Jesus, der ihr sagt: Halte mich nicht fest; denn ich bin noch nicht zum Vater hinaufgegangen. Geh aber zu meinen Brüdern und sag ihnen: Ich gehe hinauf zu meinem Vater und eurem Vater, zu meinem Gott und eurem Gott. Ich dachte an die Jünger, die Maria natürlich nicht glauben und aus Furcht bei verschlossenen Türen beieinandersitzen. Und an Jesus, der plötzlich in ihre Mitte tritt und sagt: Friede sei mit euch. Und noch einmal: Friede sei mit euch …
Und Gänsehaut überkommt mich.
Auf einmal waren Himmel und Erde verbunden. Ganz konkret. Das Diesseits und das Jenseits. Es war ein Ostererlebnis, es war mein Ostern, auch wenn das Fest längst vorbei war. Immer denke ich daran, wenn ich den Staffelstab in der Hand halte. Und durch ihn in den Himmel schaue. Der einst vergessene Staffelstab war zu einem Sakrament geworden. Zu einem sichtbaren, spürbaren Zeichen der Gegenwart Gottes. Und des Bruders.
Wer weiß, vielleicht wird der Stab eines Tages in der Hand eines anderen Familienmitglieds sein. Dann werde ich sagen, flüsternd, aus der Ferne des Jenseits: Jetzt bist du dran. Denk an Andreas, denk an mich. Lauf los und lebe dein Leben. Es hat mit Ostern zu tun.