Wie falsch das Schweigen sich anfühlt.
Vom Versuch nicht zu hassen. Biografische Streiflichter von gestern, das irgendwie auch heute ist.

 

Haarscharf ist die Kante zwischen den wegrasierten Seiten 

und dem gerade gezogenen Scheitel. 

Diese Verwandlung hat nur etwa einen Winter gebraucht.

Die, mit denen ich Schulbank und Bierflaschen teilte, 

in der Disko knutschte und mit dem Moped zum Eisladen fuhr,

marschieren mit Stiefelgedröhn über die Dorfstraße. 

Oma hat die schwarzen Springerstiefel geputzt und gewienert

und die dunkelgrüne Bomberjacke frisch gewaschen.

Nichts an der Kleidung ist bunt.

Du musst sie gut kennen, um sie zur richtigen Seite zuzuordnen.

Nach dem zweiten Bier grüßen sie mit dem Hitlergruß.

Sie sprechen männlich laut, trainieren ihre Stimmen in lautem Gegröle

und versuchen, harte Jungs zu sein.

Sie zünden an, schmeißen ein und zerstören.

Lieber Angst machen als Angst haben.

Ein Baseballschläger in der Hand gibt den Halt,

den es im gerade komplett zerbrechenden Weltbild braucht.

Gegen viel Ohnmacht hilft viel Gewalt und die Truppe.

 

Ich lerne mit 16 Jahren zu rennen,

mich unauffällig zu verhalten, 

Orte zu meiden,

selbst Stiefel zu tragen oder

mit CS Gas umzugehen.

Ich laufe lieber zu Fuß einen Umweg,

als die Straßenbahn zu nehmen, 

die die Rechten abfangen werden 

und mit Fäusten und Baseballschlägern zu entern versuchen,

immer, wenn die Linken aus ihrem Club kommen.

Freunde haben Gaspistolen und Schlagringe,

sie üben Straßenkampf

und wir tupfen den Jungs die blutenden Nasen, 

wie in einem Krieg.

 

Gerade noch im DDR-Wehrkundeunterricht Handgranaten werfen geübt,

als Kampfreserve der Partei,

als Kämpfer für den Sozialismus,

gibt es jetzt echte Kämpfe.

 

Auf keiner Seite stehen geht nicht.

 

Manchmal stelle ich mir das Gefühl vor,

wie es sein mag, 

diesen Baseballschläger abzubekommen

und kenne Momente, wo der Puls unerträglich wird,

die Angst unter dem selbst gefärbten Shirt klopft

oder einer mit seinem kahlrasierten Kopf

und einer Holzlatte in der Hand vor mir steht.

 

 

In einer Welt daneben

sortieren Eltern Goldrandtassen symmetrisch in die Vitrine

- ihre einzige blühende Landschaft.

Sie trotzen der Unordnung

mit sauberen Schrankwänden und Handtüchern auf Kante.

Sie hören nicht hin und fragen auch nicht,

sonst würden sie es nicht aushalten.

Viele gehören zur großen Menge derer,

die alles verloren haben.

Verletzte verstummte Erwachsene,

still Gewordene,

die sich nicht einmischen.

Lehrerinnen die nicht fragen,

eine Polizei,

die gar nicht erst kommt.

 

Eine schweigende

schweigende

schweigende

schweigende

schweigende

schweigende

schweigende

Erwachsenenwelt.

Und das Schweigen fühlt sich falsch an,

aber wir gewöhnen uns daran.

 

Niemand hat Interesse das Unangenehme auszusprechen,

denn es könnte dann auch sie treffen.

Das Ziel der rechten Gewalt war ja stets unberechenbar.

 

Für uns ging es um Leben und Tod.

Für die selbst Halt suchenden Erwachsenen

spielten die Kinder nur ein wenig zu heftig.

 

Eine große schweigende Mitte.

Distanziert.

Unbeteiligt.

Sich raushaltend.

 

Es gibt Daneben-Welten.

Nach einem ordentlichen Tag in der Schule

mit Schulbüchern, Brotbüchse, 100m-Lauf und Gedichtkontrolle 

geht es auf in den Straßenkampf in der Welt daneben.

 

Nach einem Dauerlauf durch die gefährliche Nebenstraße

geht es hinein in eine Wohnung mit 

Blümchentischdecke und Zitronenkuchen.

 

Nach den Abenden im Club

und dem Umgehen der Nazizonen

sitze ich still im letzten Bus zurück ins Dorf,

neben abgekämpften Helden

mit denen ich früher Bierflaschen teilte

und mit dem Moped zum Eisessen fuhr.

In ihren Gesichtern schien alles wie immer zu sein,

wenn ich mir die Bomberjacke und die Stiefel einfach wegdachte.

Wenn ich sie traf, dann redeten wir als ob nichts wäre.

Das war falsch und gleichzeitig richtig.

 

Sie zu hassen wäre einfach gewesen.

Aber das schien mir keine Lösung zu sein.

 

Hin und wieder sehen wir uns noch.

Wir, die von damals.

Unsere Meinungen stoßen noch immer aufeinander,

denn Schweigen ist für mich keine Option.

Aber wir bleiben dennoch in dem,

was uns verbindet.

Daran halten wir fest.

Auch wenns manchmal schwer ist.

Und sich immer noch richtig und falsch zur gleichen Zeit anfühlt.

Denn aufhören zu reden ist eben auch keine Option.

Erst recht heute nicht.