Mein erster Lieblingsbaum war ein Ahorn, der hinter dem Haus am Feldrand stand. Es gab keinen Tag, an dem ich nicht bei ihm in den Ästen gesessen hätte. Wenn die Sonne schien, beschirmte mich sein Laub, wenn es stürmte, wiegte er mich oben in seiner Krone mit dem Wind. Im Herbst klebte ich mir seine Spaltfrüchte auf die Nase und war ein Ahornnashorn. Der Baum war mir ein wirklicher Freund. Bäume sind mir bis heute besonders wichtig.
Gerade erst haben wir Juden sogar eine Party für Bäume gefeiert. Nämlich Tu BiSchwat, das "Neujahrsfest der Bäume". Es ist der Tag der Dankbarkeit für die gut gestaltete Beziehung zwischen Gott, dem Menschen und der Natur. Neben vielerlei Traditionen (unter anderem werden neue Bäume gepflanzt) ist der Tag Anlass, um über die Analogie zwischen Baum und Mensch nachzudenken. Etwas, was es sogar auch außerhalb des Judentums, nämlich in der Psychologie als Therapiemethode gibt. "Tree of Life" nennt sie sich und wurde von David Denborough als Teil der narrativen Therapie entwickelt. Dabei malt man einen Baum, dessen Bestandteile symbolisch für verschiedene Lebensbereiche stehen. Die Wurzeln stehen für die Herkunftsgeschichten und all die Geschichten, das Lachen und die Tränen, die unsere Vorfahren uns in die Seele geweint haben. Der Stamm steht für die eigenen Fähigkeiten, Haltungen und Werte; die Äste für Sehnsüchte und Hoffnungen; die Blätter für Menschen, die wichtig sind, die Früchte für die Geschenke, die man im Laufe des Lebens erhalten hat und die Samen stehen für all das, was man weiter geben möchte. Wer sich auf diese Weise einmal mit seinem Leben auseinandergesetzt hat, weiß besser, wo er steht, was ihm mitgegeben wurde und wohin er will.
Aber man kann natürlich noch viel weiter, wilder und freier über diese Analogie philosophieren: Was für ein Baum wäre ich?
Eine starke Eiche? Eine zarte Birke? Ein ungeduldiger Essigbaum?
Sind meine Wurzeln kräftig genug für die Stürme des Lebens?
Hält mein Stamm die Last meiner Äste?
Wo würde ich gerne wachsen? Bin ich eine einsame Buche am Wegrand, eine Fichte im Wald? Vielleicht eine Trauerweide an einem großen Fluss? Oder ein Bonsai auf einer Fensterbank?
Man muss seine Phantasie allerdings nicht unnötig auf die vorhandenen Gehölze reduzieren, wenn man eine andere Idee hat. Ich zum Beispiel sehe mich als Wurzellaufbaum (-ja, den hab ich grad erfunden). Mein Wurzellaufbaum hat Blätter wie eine Zitterpappel, sicherheitshalber ein paar Stacheln am Stamm und kunterbunte Früchte, die mindestens so gut dopsen wie Kastanien. Als Wurzellaufbaum kann man zwar nicht allzu groß werden, aber dafür kann ich im Zweifel meine Wurzeln aus der Erde ziehen und mit ihnen woanders hin spazieren. Daher auch der Name. Wurzellaufbaum. So sieht man auch ein bisschen mehr von der Welt.
Und was für ein Baum bist Du?