Toxic Instinct
Wir müssen reden

Von Zeit zu Zeit die Welt beobachten und die Kirche - das habe ich, Birgit Mattausch, in den letzten Wochen rund um den Rücktritt von Annette Kurschus gemacht. Und gemerkt: Diesen Platz hier will ich diesen Monat einer missbrauchsbetroffenen Person zur Verfügung stellen. Die Person möchte anonym bleiben, ihr Name ist mir bekannt - und ich danke ihr sehr, dass sie ihre Gedanken mit uns teilt:

"Es sind jetzt dreizehn Jahre nach Canisius. Vielleicht lassen wir uns das noch einmal über die Zunge gehen. Dreizehn Jahre. Etwas in meiner Seele rüttelt sich wach, wenn ich mir diesen Zeitraum in meine Gedankenwelt rufe. Es ist ein unwirklich müder, blinzelnder Drache. Der kurz aufwacht und mir zuraunt: 'Lass gut sein mit dem Kämpfen, lohnt nicht mehr.'

Es ist einfach zu viel Zeit vergangen. Und was haben wir als Kirche eigentlich wirklich vorzuweisen? Mein eigener Missbrauch fand in diesem Zeitraum statt. Nach meinen Erfahrungen gehend, muss ich sagen – die Kirche als Institution hatte mir nichts zu geben. Keine Gerechtigkeit, wenig Unterstützung. Gar keine, wirklich gar keine Aufarbeitung.

Das Opium namens 'wir kümmern uns darum', mit dem uns die EKD in Sicherheit gewogen hat, denke ich, hat einen Großteil des Effektes in den letzten Wochen eingebüßt. Seit Kurschus. Für mich hat es schon seit Jahren nicht mehr gewirkt, deshalb verstehe ich vielleicht ganz gut, welche Schockwirkung sich jetzt breit macht. Diesen Schock habe ich schon hinter mir.

Dieser gemeinschaftliche Schock ist nur der Auftakt. Wenn im Januar die Missbrauchsstudie erscheint, dann sind wir als Kirche nicht darauf vorbereitet. Die Hölle, das sind dann nicht mehr die anderen. Und es wird uns treffen, wie ein mit Mauersteinen gefüllter Boxhandschuh.

Wir müssen jetzt (nun ja – eigentlich schon seit dreizehn Jahren) darüber reden. Nicht nur darüber, dass es Missbrauch in unserer Kirche gibt. Vor allem aber über unsere eigenen toxischen Instinkte, wenn es um Missbrauch und den Umgang damit in unserer Kirche geht. Seit der 'Causa Kurschus' sind sie fast schon plakativ ans Tageslicht getreten. Also sehen wir uns mal die Reaktionen der letzten Wochen etwas genauer an:

Das große Schweigen

Die Abwesenheit von Solidaritätsbekundungen besonders aus den liberalen, feministischen und linken Kreisen war unübersehbar. Es sind die Kreise, die eigentlich besonders laut und deutlich hätten aufschreien müssen. Aber, da war nichts. Kaum Wortmeldungen, keine kämpferischen Insta Beiträge, keine große oder kleine Revolution. Auch hier gilt natürlich: #notallfeministinchurch.

Beifall klatschen und viel toxisches Mitleid

Die etwas breitere Masse hat der wahlweisen 'armen' oder 'von den bösen Medien weggeputschte', sogar 'von den Betroffenenvertreter:innen weggemobbte' Annette Kurschus viel Beileid bekundet. Es gab warme Worte. Wie in einer Fieberfantasie wurde sogar von einer 'gnadenlosen Kirche' fabuliert, weil sie gehen musste.

Was ist das Toxische daran? Hier stand ein Kirchenoberhaupt zur Diskussion, dem ein falscher Umgang mit einem Fall sexualisierter Gewalt vorgeworfen wurde. Nicht weniger.

Ist das der Moment, um sie 'die Mächtige' mit Mitgefühl, Wärme und Beifall zu überschütten oder war es an der Zeit, Farbe zu bekennen? Ich meine letzteres. Es zeigte mir in diesen Tagen nur eines: Die breite Masse steht nicht zu uns Betroffenen, sondern zu dem mutmaßlichen (man muss es dazu schreiben) Tatsystem und deren Mitspieler:innen.

Verbale Gewalt gegen Betroffene

Neben dem schwallartigen Schweigen und gefühlsschrulligen Beileidsbekundungen liegt eben noch etwas mehr Dreck. Es war mir kein Vergnügen, ihn in den letzten Wochen zu sehen, aber wie erwartet wurde er hochgespült: Und zwar in Form von Hohn, Spott und anderen Formen verbaler Gewalt an Betroffenen. Eigentlich sollte es selbstverständlich sein, aber das ist nicht zu tolerieren. Ganz besonders nicht in einer christlichen Gemeinschaft. Wir tun unseren eigenen Opfern keine weitere Gewalt an. Auch keine verbale. Auch nicht im Internet. Ende der Durchsage.

Es ist eben eine Crux, in einem Missbrauchsbetroffenen System nicht selbst in irgendeiner Weise Mittäter:in zu werden - Durch Unterlassung, falsche Loyalität oder Wut auf die Opfer. Ich verstehe das. Und ich unterstelle den meisten auch keine böse Absicht. Doch dieser Kreislauf der Gewalt muss durchbrochen werden. Jetzt.

Okay, eigentlich schon innerhalb der letzten dreizehn Jahre.

Aber jetzt ganz besonders.

Wie räumen wir diesen Schlamassel denn jetzt am besten wieder auf? Mir fallen gerade drei Möglichkeiten ein, die ich euch mitgeben möchte. Wenn ihr sie passend findet, dann würde ich mich freuen, wenn ihr sie mit in eure Leben nehmt. Falls ihr noch Ergänzungen habt, scheut euch nicht und teilt sie gern. Über eine bessere Welt denkt es sich immer am besten gemeinsam nach.

Tool #1 Weite Herzen

Mitgefühl. Es bedeutet für mich, sein Herz ganz weit zu machen. Nicht nur für das angenehme und Schöne in der Welt. Sondern auch für das schmerzhafte und Schlimme. Wir können so unsere Perspektive weit machen, uns ansehen und mitfühlen, was Betroffene durchmachen. Das ist meistens nicht schön. Aber darin liegt eine Chance. Da wo wir hinsehen, kann man uns nicht mehr täuschen. Da wo wir uns hineinfühlen, können wir die emotionale Dringlichkeit der Situation nachempfinden. Dort wo wir uns hineindenken, können wir durch das Problem sehen und schließlich Lösungen entwickeln.

Tool #2 Christliche Machtkritik

Es ist ein kleiner Mindfuck, da wir als Kirche selbst in einer Machtposition sind. Aber Machtkritik ist unser Ding. Da müssen wir ehrlich sein. Das zieht sich vom Alten ins Neue Testament. Durch die Anfänge der Kirche bis in die heutige Zeit. Wir tun unseren prophetischen Dienst. Lesen anderen die Leviten, wenn es um Seenotrettung, Verantwortungsübernahme beim Klimawandel, ungleiche Löhne, Sexismus und Rassismus geht. Und das ist super. Es ist nur schwierig, wenn unsere eigene Machtstrukturen nicht zu unseren Ansprüchen passen.

Falls ihr euch also gelegentlich fragt, ob ihr eurer Kirche Schaden zufügt oder es – Gott bewahre- sogar unchristlich ist, eure eigene Kirche zu kritisieren: das ist es nicht. Es ist das Gegenteil davon. Eure Kritik, euer Mitgefühl mit den Betroffenen ist eure Stärke. Sie ist das Christlichste, das es gibt und die Grundlage dafür, eine bessere Kirche zu erschaffen. Seid kritisch. Seid laut. Habt Mut! Ihr tut das Richtige.

Tool #3 Wir sind nicht allein

Egal wie überwältigend ein Problem auch aussieht. Wir sind hier nicht allein. Wir sind Gemeinschaft. Sogar eine weltweite. Wir sind kleine Parochie, große Stadtkirche und alles dazwischen. Wir sind Organisation und Institution. Und vor allem: wir sind als Christ:innen mit einem Gott verbunden, der uns so nah sein wollte, dass er für uns auf die Welt gekommen ist. Wir werden auch durch diese Krise gehen. Gemeinsam miteinander. Zusammen mit Gott an unserer Seite.

Ich glaube daran, dass wir durch unsere Gedanken, Worte und Taten die Welt ein bisschen mehr zu Gottes Reich machen können. Nicht mehr müde blinzelnd. Sondern wach und einfühlsam – ein Segen für die Welt.

Amen

Nachtrag:

Ich möchte mich herzlich bei allen Menschen bedanken, die sich mit unserer Kirche schon auf den Weg gemacht haben. Ganz besonders beim Beteiligungsforum der EKD. Ich weiß nicht, wie ihr eure Arbeit aushaltet. Was ihr da leistet, ist schlicht heldenhaft und verdient meinen großen Respekt. Vielen Dank, dass ihr nicht aufgebt. Danke für euren Dienst."