Üben
Von Zeit zu Zeit die Welt beobachten. Und mich in ihr. Die letzten Wochen haben mich misstrauisch gemacht.

Ich ertappe mich dabei, wie ich am liebsten fragen würde: Hältst du die Hamas im Grunde für eine ganz okaye Organisation? Oder: Sprichst du nicht mit mir, weil ich eine Frau bin? Oder: Meinst du, dass man Menschen im Zweifel lieber ertrinken lassen soll? Oder: Dass antisemitisch immer nur die anderen sind? Eigentlich frage ich nur nicht, weil das unhöflich wäre und noch mehr: weil ich Angst vor den Antworten habe. Ungefähr soviel Angst wie davor, dass ich etwas Wichtiges übersehe. Dass ich genau jetzt einen Fehler mache.

Ich möchte durch den Regen gehen und durch das Läuten der Glocken. Ich möchte vergessen, dass sie nicht unschuldig sind, aber ich kann es nicht.

Ich möchte einen Mantel anhaben, der gerade warm und gerade leicht genug ist.

Ich möchte auf Bäume blicken. Birken den Hang hinauf mit Erde statt Himmel im Hintergrund.

Ich möchte sehr langsam sein.

Ich möchte den ganzen Vormittag Menschen beim Taekwondo zuschauen hinter einer Schaufensterscheibe. Ihre Verbeugung. Ihre Konzentration. Die Umrisse ihrer weißen Kittel vor dem Silber des Spiegels. Die Ärmel Rechtecke.

Ich möchte auch einmal von Vergil herkommen und nicht einfach nur von Rossmann, wo ich noch schnell Waschmittel kaufen musste, aber das ist ein anderer Text.

Ich möchte die Augen schließen und wenn ich sie wieder aufmache, dann habe ich mein Vertrauen wiedergefunden. Möchte sie noch einmal schließen und wenn ich sie aufmache, dann weiß ich, was zu tun ist. Wirklich zu tun.

Ich möchte die Angst verlernen.

Ich möchte die Welt heilen sehen.

Wochenaufgabe:

Trotz allem die Augen immer wieder aufmachen. Vertrauen und Klarheit üben wie Taekwondo.

Und vielleicht ja etwas von dem hier hören & lesen:

Alle Folgen von „Piratensender Powerplay“ seit dem 7.10.

Hotel Matze“ mit Aladin El-Mafaalani.

Dieses Interview mit Eva Illouz.

Diesen Text von Navid Kermani.