Das Gute an Ostern ist: Fünfzig Tage lang wird das Fest gefeiert. Die Freudenzeit über die Auferstehung Jesu Christi währt sieben Wochen. Bis Pfingsten. Das Schlechte an Ostern ist: Auch der Gedanke an Tod und Auferstehung kann fünfzig Tage dauern.
Wie nah beides beieinander ist, der Tod und das Leben, die Trauer und die Freude, fiel mir erst kürzlich wieder auf.
Es war in Oberbayern; in der Nähe von Bad Tölz. Dort, wo mein Bruder begraben ist, der Künstler. Seit fünfzehn Jahren. Was für eine unfassbar lange Zeit. Wir waren bei Nachbarn gewesen, und auch sie konnten kaum glauben, dass er schon so lange tot ist, der Bruder, den auch sie in ihr Herz geschlossen haben.
Sie fingen an zu erzählen, von ihm und der Beerdigung und wie es war, als sein Sarg an einem der schönsten Frühsommertage des Jahres 2008 einmal um die Dorfkirche herum getragen wurde, bis ich die Erinnerung nicht mehr ertrug und sie bat, zu schweigen. Zu nah das alles. Noch immer. Die Erinnerung daran, die nicht vergeht. Die Erinnerung an alles Fröhliche und alles Traurige, an die Besuche in der Klinik, ans Lachen und Weinen und ans heimliche Rauchen irgendwo abseits der endlosen Gänge, in der Unendlichkeit des riesigen Krankenhauses, dieser Menschenfabrik im Westen Münchens.
Als ich später bei ihm bin, an seinem Grab, das österlich geschmückt ist mit Tulpen und Palmkatzen und blühenden Narzissen, und in die brennende Kerze schaue, kommt aus dem Innern der Kirche ein leises Geräusch. Ich gehe hinein. Tatsächlich, da ist jemand. Eine Frau kehrt den Boden. Sie lässt mich hinein, bis ganz nach vorne, zu dem anderen Grab. Dem Grab Jesu.
Palmen umgeben den geweihten Ort, es sind Palmen des himmlischen Jerusalem. Soldaten stehen zur Linken und Rechten der Ruhestätte, sie halten Wache, obwohl es dort niemanden mehr zu bewachen gibt, weil Jesus auferstanden und nicht mehr hier ist, an der Stelle, wo man ihn hingelegt hat (Mk 16,5). Dazu zwei Engel in blauen Gewändern. Als Zeichen, dass das Grab nicht das Ende ist. Nicht für den Gottessohn.
Und vielleicht auch nicht für ihn, den Bruder da draußen, für uns.
Die Frau schaut mich an, als versuche sie, meine Gedanken zu lesen, und sie schaltet das Licht ein, nur für mich. Da leuchten die bunten Kugeln, die das Grab umgeben, in den herrlichsten Farben, blau und rot und gelb und grün und violett, als hätten sie die Stätte zum Leben erweckt. Die Heilig-Grab-Kugeln, wie sie heißen, gelten als Sonnen- und Glückssymbole. So etwas Schönes habe ich selten gesehen. Das kenne ich nur von hier, aus Oberbayern.
Auf einmal überkommt mich ein kleiner Freudenschimmer, wie ein zartes, österliches Glücksgefühl. Wegen des Lichts und der Farben – und der Hoffnung auf die Ewigkeit.
Ein Ort, zwei Gräber. Das Grab Jesu. Und das meines Bruders. Es bleibt ein Nebeneinander von Tod und Leben, es bleibt ein Nah-Beieinander von Trauer und Trost, unbarmherzig gleichzeitig. Und doch barmherzig. Als habe sich das Heilig-Grab-Licht in ein Auferstehungslicht verwandelt. Heimlich, still und leise hat es sich auf mich gelegt.
Da darf es bis Pfingsten gern bleiben. Von mir aus auch länger.