Seit der Reformationstag zurück ist als weitgehend arbeitsfreier Tag in der Republik, können Menschen kirchlicher Gesinnung wieder in die Gottesdienste gehen, und viele tun es auch. Als gebe es noch Reste evangelischen Bewusstseins im Land. Ganz weit hinten im Gewissen zu etwas zu gehören, das man nicht schon wieder selber erfunden hat. Zu dieser 500-Jahres-Geschichte, die mit einem stillen Aufstand an einer Kirchentür begann.
Protest gegen den Zwang etwas Bestimmtes glauben zu müssen. Protest dagegen, dass ein Institut mir sagt, was zu fühlen und zu leben sei. Seitdem streift das menschliche Leben einen sozialen Groß-Bestimmer nach dem anderen aus seiner Liste der Vorbilder: 'Die Partei', 'der Staat', 'die Regionalregierung', 'das Familienoberhaupt', 'die Bürgermeisterin', 'die Schule', 'das Dorf', 'die Bundeswehr', 'die Kirche', 'die Lügenpresse'. …
Das alles sind Versuche, 'außen' falsche Bestimmung abzusetzen. Ein anderer Protest begleitet das kulturelle Leben seit einiger Zeit.
Jetzt möchten einige sich selbst in ihrem Körper als 'männliche' oder 'weibliche' Instanz fraglich machen. Auch wenn hier eine Minderheit laut ruft - es bewegt viele. (Jedenfalls tendenziell die mit einem Einkommen über 50.000 im Jahr.) Man schüttelt den Kopf, man diskutiert hart, man versucht zu verstehen.
"Also wenn 'Mann und Frau' jetzt auch nicht mehr gesetzt sind …" - was soll man eigentlich noch glauben?" -
"Endlich dürfen wir mehr als wir müssen!" jubeln die, die ihren Weg völlig neu zwischen den Geschlechtern und Festlegungen finden möchten.
Also würde ein ganzes Land von allen Seiten umgegraben, von außen, von innen, selbst der Himmel ist fraglich - als Klima wie als spirituelle Größe.
Das alles überfordert den einzelnen Menschen in einem Maß, das wir erst allmählich erahnen. Etliche rufen dann nach einem Führer, der wieder klare Fronten schaffen soll. Die eine große General-Instanz soll die Splitter-Ansichten vereinen, gern mit Gewalt. Und ggfs vernichten, was nicht paßt. Sie richten ihre Angst aggressiv nach außen. Andere bekommen Angststörungen, schlingern also innen. Dies Land wird das der Therapeutinnen und Ratgeber.
'Reformation' ist zum Prinzip geworden. Permanente Unruhe ist die neue Statik. Nichts bleibt wie es ist. Ist das die Welt, in der ich leben mag?
Ja, ich will. Auch wenn es mir schwer fällt. Hier stehe ich und kann nicht anders - als weiterzuleben im Schlingerkurs der Regierung, in dem meiner Familie, im neuen kleinen Verzicht auf Heizung und Fleisch, der Irritation zwischen Bergpredigt und Panzern.
Ich deute die Geschlechts-Fragenden als neue Radikale: Sie wollen auch für sich als Körper bestimmen lernen, was trägt und was nicht. Das ist sicher oft unverdaulich für alle, aber ich sehe, sie versuchen es.
Und ich sehe darin unter anderem die Revolte gegen alles, was in dieser Welt 'Entweder-Oder' behauptet. Entweder Wachstum oder Armut. Entweder Mann oder Frau. Entweder du oder ich. Entweder Friedensethik oder Kriegsführung.
Der wuchtige Schubser der Reformation vor 500 Jahren hat Leute befreit vom Diktat der dekadent gewordenen katholischen Kirche: 'Entweder du glaubst, was wir glauben, oder du bist raus.' Luther wollte wohl kein 'Entweder-Oder', also nicht entweder 'katholisch oder protestantisch'. Aber die Zeit wollte das ODER. So entstand eine neue Partei, die Evangelische. Es kam so, weil alternde Systeme erst brechen müssen, bevor sie - viel später - 'und' sagen lernen. Vielleicht gelingt es den Identitäts-Reformenden. Es gibt Brüche, klar. Aber was wäre, wenn ein Problem in Deutschland endlich mehrere gültige Lösungen haben dürfte? Bislang lehrte die Schule: Nur EINE Antwort ist richtig, alles andere ist falsch. Bis in die Gene hinein funktionieren wir im Null und Eins-Modus im 'Entweder falsch oder richtig Modus'.
Vielleicht ist das jetzt die größte Reformation seit Luther: Nicht mehr 'entweder oder' denken zu dürfen bzw zu müssen. Dass der Mensch befreit ist zu sagen: Ja ich bin Mann UND Frau, ich bin zärtlich UND hart als Mann, ich bin kinderverliebt UND ambitioniert im Job als Frau, ich kann mit den Ukrainischen Siege feiern UND Jesus zuhören, der sagt: Liebt, sonst seid ihr verloren, ich kann monogam leben UND mit anderen, ich habe katholische UND evangelische Theologie und Praxis studiert - und ich bin dadurch reich, ich kann so UND ich kann auch anders.