Die Narbe im Herzen
Das Olympia-Massaker von 1972 und die Worte des Propheten Jeremia

Warum dauert mein Leiden ewig und ist meine Wunde so bösartig, dass sie nicht heilen will? Mit diesen Worten des Propheten Jeremia begann Isaac Herzog, Präsident des Staates Israel, seine Rede in Fürstenfeldbruck, am 50. Jahrestag des blutigen Massakers bei den Olympischen Spiele 1972 in München.

Ich war damals gerade 14 Jahre alt. Mein Vater und ich hatten einige Wettkämpfe gesehen, es war sein Geschenk gewesen zu meinem Geburtstag zweieinhalb Wochen zuvor. Wir sahen Leichtathletik, Ulrike Meyfarth vor allem. Sie sprang zur Goldmedaille, am 4. September 1972 war das. Die Sportwelt jubelte. Und wir jubelten mit. Wir freuten uns mit den Athletinnen und Athleten und der ganzen Stadt, die heiter und fröhlich war wie die Spiele, und die später meine Heimat werden sollte.

Am andern Morgen war alles anders. Und nichts war mehr fröhlich.

Acht palästinensische Terroristen waren ins ungesicherte Olympiadorf eingedrungen, ins Wohnquartier der israelischen Mannschaft, hatten gemordet und Geiseln genommen, freies Geleit zum Fliegerhorst Fürstenfeldbruck erwirkt, wo ein Polizeieinsatz katastrophal scheiterte und es zum Blutvergießen kam. Am Ende waren alle Israelis und ein deutscher Polizist tot. David Berger. Anton Fliegerbauer. Ze’ev Friedman. Yossef Gutfreund. Eliezer Halfin. Yossef Romano. Amitzur Shapira. Kehat Shor. Mark Slavin. Andrei Spitzer. Yakov Springer. Moshe Weinberg.

 "Die Spiele endeten in einem Blutbad", heißt es noch heute in einige Medien. Doch sie endeten nicht. "The Games must go on", hatte der US-amerikanische IOC-Präsident Avery Brundage gefordert, obwohl das längst entschieden war. Brundage verkündete es ausgerechnet bei der Trauerfeier am folgenden Tag. Die Spiele gingen weiter. – Und wir waren entsetzt.

Warum dauert mein Leiden ewig und ist meine Wunde so bösartig, dass sie nicht heilen will? Darum: Weil die Spiele weitergingen.

Warum dauert mein Leiden ewig und ist meine Wunde so bösartig, dass sie nicht heilen will? Vor allem darum: Weil alles falsch lief am 5. und 6. September 1972. Und in den fünfzig Jahren danach. Denn beinahe wäre auch die Gedenkstunde in Fürstenfeldbruck gescheitert. Durch deutsches Versagen.

Gewiss habe ich dich zum Guten befreit. Gewiss habe ich zur Zeit des Unheils und zur Zeit der Bedrängnis durch den Feind dich überfallen lassen, sagt Jeremia ein paar Verse vor der Frage, die Herzog zitierte.

Adolf Hitler hatte uns zum Feind des jüdischen Volkes gemacht. Der Feind sind wir geblieben. Auch wenn Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die richtigen Worte fand, als er um Vergebung für unser dreifaches Versagen bat. Das mangelnde Sicherheitskonzept bei der Vorbereitung der Spiele. Das Versagen am 5. und 6. September 1972. Das Schweigen, das Verdrängen, das Vergessen, das schon am Tag nach dem Attentat begann. Auch wenn Herzog dem Bundespräsidenten für "diese mutige, diese historische Rede" dankte. "Es bleibt ein immerwährender Schmerz" und "eine nicht heilende Wunde" (Herzog). "Alle von uns, die sich erinnern, tragen diese Narbe im Herzen." Deutlicher wird die Witwe des ermordeten Andrei Spitzer, Ankie Spitzer: "Es wird nie einen Abschluss geben. Das Loch in meinem Herzen wird niemals heilen."

Darum dauert das Leiden ewig und ist die Wunde so bösartig, dass sie nicht heilen will. Es ist unsere Schuld.

Umso mehr bewegt es mich, wenn ich in Israel bin und dort auf Menschen treffe, die anerkennen, was wir tun oder doch jedenfalls versuchen zu tun. "Die Freundschaft, die Versöhnung, die Israel uns geschenkt hat, ist nichts weniger als ein Wunder", sagte Steinmeier in Fürstenfeldbruck. Das stimmt. Ein Wunder inmitten der Wunde. Ein unverdientes obendrein.

Selbst wenn wir uns wünschen, dass die Wunde heilt, irgendwann: Die Narben bleiben. Sie bleiben hoffentlich auch in unseren Herzen. Damit eintreten kann, was der Prophet Jeremia sagt: Gewiss habe ich dich zum Guten befreit.