Apeirogon
Eine mathematische Formel, ein Buch und ich

Wenn ich verreise, lese ich Bücher, die in dem Land spielen, das ich besuche. Diesmal ist es Israel. Doch anders als sonst lese ich nicht David Grossman oder Amos Oz, sondern ein Buch von Colum McCann. Er ist Ire. "Apeirogon" heißt es. Es ist ein literarisches Puzzle aus lauter einzelnen Episoden, die wahllos nebeneinanderzustehen scheinen angesichts der eigentlichen Geschichte. Doch der Schein trügt. Das Kaleidoskop hat eine Friedensbotschaft. Das tut gut in dieser Zeit.

Als Mathematikfan gefiel mir schon der Titel. Apeirogon ist "eine Figur mit einer zählbar unendlichen Menge Seiten. Zählbar unendlich ist die einfachste Form der Unendlichkeit", erklärt McCann. "Angefangen bei null, zählt man unter Verwendung der natürlichen Zahlen immer weiter, und obwohl das Zählen unendlich andauert, kann man in einer begrenzten Zeitspanne an jeden Punkt des Universums gelangen." – Wunderbar!

Die Geschichte selbst handelt von zwei Vätern, die ihre Töchter im Nahostkonflikt verlieren. Der eine, Rami, ist Israeli, der andere, Bassan, Palästinenser. Sie müssten Gegner sein, doch sie werden Freunde. Die Geschichte ist wahr.

Oft kam es Rami so vor, "als wohnten mindestens zehn Israelis in ihm, die einander bekämpften", schreibt McCann, darunter diese: "Der innerlich Zerrissene. Der Beschämte. Der Enthusiastische. Der Trauernde. (…) Der Anarchist. Der Demonstrant. Der, der alles Sehen gründlich satthatte." Ihm wurde schwindelig davon, so viele Menschen auf einmal zu sein. "Das machte alles so kompliziert." Und man kann es ihm nachfühlen.

Als ich das las, dachte ich daran, wie oft es mir so vorkommt, als wohnten viele Menschen in mir, die einander bekämpfen. Die Zerrissene. Die Beschämte. Die Enthusiastische. Die Trauernde. Die Zornige. Die Fröhliche. Die Trotzige. Die Kämpferin. Die Zweiflerin. Das Rumpelstilzchen. Die Fromme. Heute die, morgen jene. Alles gleichzeitig und gleichzeitig nichts. Die, für die andere sie halten, und die, die ich bin. - Ja, das kenne ich.

Und dann fiel mir Dietrich Bonhoeffer ein, sein Gedicht "Wer bin ich?"; diese Verse:

Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?
Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?
Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig,
ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle,
hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen,
dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe,
zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung,
umgetrieben vom Warten auf große Dinge. (…)

Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.
Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!

Wer ich auch bin, vor Gott bin ich ich. Er kennt mich in allen Facetten. Vor ihm muss ich mich nicht verstellen, nicht verstecken. Bei ihm kann ich alles sein. Und alles gleichzeitig. Auch eine Figur mit einer zählbar unendlichen Menge Seiten.

Und nichts daran ist kompliziert.