Geimpft
Von Zeit zu Zeit die Welt beobachten. Am Anfang der Pandemie dachte ich, Corona mache uns alle gleich. Oder zumindest: gleicher. Oder zumindest: gleicher in der westlichen Welt. Oder zumindest: gleicher in diesem Land. Oder zumindest: in meinem unmittelbaren Umfeld. Aber ich habe mich getäuscht. Fast das Gegenteil ist eingetreten: Wir driften noch weiter auseinander. Die digital Affinen und die Nur-analog-ist-echt-Verfechter*innen. Die Tatkräftigen und die Unsicheren. Die Mütter und die Kinderlosen. Die Generationen. Dabei ist es doch klar, dass wir nur solidarisch weiterkommen - hin zu einer gerechteren, zärtlicheren Welt, zum „guten Leben für alle“. Meine Vermutung ist: wir müssen auf dem Weg zur Solidarität lernen, Erfahrungen aus unterschiedlichen Perspektiven zu hören und zu verstehen. Und: radikal von uns selbst sprechen - ohne den Anspruch zu erheben, irgendwie allgemeingültig zu sein. Heute versuche ich es. In der Hoffnung, gehört zu werden als eine Stimme unter vielen. In der Hoffnung, dass neben sie ganz andere Stimmen treten mögen.

Also: ich wurde geimpft. Erstimpfung mit Astra Zeneca. Dabei gehöre ich in Niedersachsen noch längst nicht zu einer priorisierten Gruppe. Ich pflege niemanden. Ich habe keinerlei körperliche Beeinträchtigungen. Ich muß, um meine Arbeit zu tun, meine Wohnung nicht verlassen.

14 Monate lang habe ich mein Leben darauf eingestellt, so hilfreich und zugleich so wenig belastend für das Gesundheitssystem wie möglich zu sein. Oft war das einfach für mich. Ich bin gut in zuhause sein - das war ich schon immer. Meine Wohnung hat einen Balkon. Mein WLAN ist stabil. Mein Gehalt ebenso. Ein einzelner smaragdfarbener Käfer, eine Minute lang beobachtet, kann mir einen ganzen vermurksten Tag retten. Twitter, Insta, Facebook, Zoom - all das macht mir nicht Angst, sondern Spass. Manches, was mich anstrengt, war durch die Pandemie plötzlich nicht mehr nötig: mit vielen Leuten in einem Raum sein, immer ewig lang vorausplanen, den Sonntagmorgengottesdienst als Anfang und Ziel allen christlichen Glaubens betrachten, auf unbequemen Stühlen in unbequemen Hosen sitzen.

Anderes dagegen war und ist schwer. Ich habe lange nicht gemerkt, wie schwer. Habe es als gegeben hingenommen, als selbstverständlich, denn ich kann ja: siehe oben.

Schwer war: vom ersten Lockdown an sicher zu wissen, dass ich, wenn die Intensivbetten und die Beatmungsgeräte knapp würden, im Fall des Falles auf eines für mich verzichten würde - weil es niemanden in der Welt gibt, für den mein Da-Sein entscheidend für das eigene Da-Sein ist: kein Kind, kein Gegenüber, keine Gemeinschaft. Und als das Szenario weniger apokalyptisch wurde: zu wissen, dass ich und welche wie ich mit die letzten in der Impfpriorisierung sein würden. Auch mit die letzten, um die sich die öffentlichen Gedanken drehten bei der Frage, wen man besuchen dürfe etwa, was legitim sei an Kontakten und Berührungen. Schwer war vor allem, dass ich das völlig richtig fand. So richtig, dass dieser alte Gedanke in mich eindrang und mich ganz besetzt hielt: dass ich klaglos zu geben hätte (Ideen, Verzicht, Verstehen, Geld, Geduld, Freundlichkeit), aber die Welt und vor allem ich selbst mir, der allein lebenden Frau mittleren Alters (oje, das bin ich nun), erst wieder einen Platz einräumen würden, wenn „das“ „vorbei“ wäre (und meine depressiven Anteile mich bis dahin nicht in einen Nebel aus Nichts gezogen hätten).

Schwer war es schließlich, als sowohl Heimatminister Seehofer als auch eine Tante, die mir schon als Kind beigebracht hatte, dass es wichtiger sei, nach den anderen zu schauen als nach sich selbst, sich weigerten, Astra Zeneca zu nehmen und stattdessen auf Biontech bestanden (und es natürlich auch bekamen). Als andere nach Mallorca flogen und alle an den Feiertagen doch ihre Eltern, Kinder, Enkelkinder trafen. Während ich immer vereinzelter wurde und es mir immer schwerer fiel, mich wenigstens zum Spazierengehen zu verabreden.

Es war eine an Corona erkrankte Freundin, die mir sagte, ich müsse nicht einfach still weiter warten. Sie schickte mir Artikel über übrige Impfdosen in Arztpraxen und zu Seiten, auf denen ich mich registrieren lassen konnte.

Und es war tatsächlich ich, die „Arztpraxis Hildesheim“ bei Google eingab und 15 Minuten später eine fand, die impfte „ab einem bestimmten Alter, auch an Feiertagen, bis 23.30 Uhr“. Mit klopfendem Herzen schrieb ich ins Onlineformular, dass es keinen Grund gäbe, mich vorzuziehen, aber dass ich es jetzt dennoch versuchte. Ich schickte es ab und hatte fast sofort eine Bestätigung und einen ersten Impftermin. Es war für mich, als hätte die Ewige höchstpersönlich mir gesagt: du darfst.

Und nun bin ich also erst-geimpft - in einer Praxis, in der alle unglaublich herzlich, nett und vergnügt waren - auch abends um halb 8. Teil einer großen Unternehmung von Menschen weltweit, die wollen, dass andere sicher sind. Auch ich. Natürlich habe ich danach erst mal geweint. Und dann ein Selfie gemacht - mit Pflaster auf dem Arm.

Ich weiß immer noch nicht, ob es richtig war. Wem ich vielleicht etwas weggenommen habe. Ich weiß auf jeden Fall, dass es anderen, vor allem prekärer lebenden Menschen, leichter gemacht werden muß, eine Impfung zu bekommen. Dass es Impfmobile braucht. Und die weltweite Lage eine Katastrophe ist.

Und ich fühle mich, als hätte der Wal angefangen, mich hochzuwürgen. Bald spuckt er mich aus. Ich bin zerzaust. Bin anders als davor. Aber ich bin da. Und will lernen, wie das geht: solidarisch sein und dabei nicht selber verschwinden. Will lernen zu glauben: auch eine wie mich soll es geben.

 


Wochenaufgabe:

Vielleicht teilst auch du deine Corona-Geschichte. Was du ausgehalten hast und was du nicht mehr ausgehalten hast. Was war und was ist. Erzählst es einem Menschen. Oder vielen. Auf dass wir einander besser verstehen.