Der seidene Faden
Was Marionetten und nackter Glauben verbindet

Wenn ich meinen Kalender durchblättere, sehe ich überall Durchgestrichenes. Nahezu alles, was 2020 anstand, wurde abgesagt. Gottesdienste, Kirchentagssitzungen, Chorproben, auch das geliebte Chorwochenende, die Pilgerreise nach Assisi und so vieles mehr.

Nur die Jahrestage sind allesamt noch da. Schöne, traurige. Heitere, entsetzliche. Jahrestage, an die ich mich gern erinnere, und solche, die mir immer noch den Boden unter den Füßen wegziehen. Im Mai war so einer. Da jährte sich ein Suizid zum fünften Mal.

Wie dünn das Eis doch manchmal ist. Wie seiden der Faden, an dem die Bedrohung hängt, die Gefahr, die unvermittelt kommen kann. Über jede und jeden.

Ich weiß noch genau, was die Pfarrerin damals sagte. Ihre Predigt rankte sich um einen Satz aus dem 5. Buch Mose. Den hatte die Familie ausgesucht, als Versuch einer Antwort auf die Frage, wie Gott es zulassen konnte, dass ihr Sohn, ihr Bruder so verzweifelt war, dass er keinen Ausweg fand: Der Herr, dein Gott, ist ein barmherziger Gott, er wird dich nicht verlassen.

"Das ist nackter Glaube", sagte sie. "Denn da ist nichts im Geschehen selbst, das für den barmherzigen Gott spräche, dafür, dass ich weiter auf seine Liebe trauen sollte. - Man sagt, Gott ist die Liebe. Und es klingt gut, und es sagt sich leicht, wenn es uns gut geht. Aber zu Zeiten wie diesen?"

"Ich glaube", fuhr sie fort, "wenn wir so fragen, übersehen wir, dass die Liebe Gottes sich nicht darin zeigt, dass sie uns ein bequemes, ungefährdetes Leben ohne Leid sichert. Die Liebe Gottes ist vielmehr selbst tief mit Leid verbunden. Das Leiden und der Tod Jesu, der diese Liebe verkörpert, sind in Wahrheit der Preis, den Gott selbst bereit ist zu zahlen und zahlt. Den Preis dafür, dass Gott dem Menschen die Würde belässt, frei zu entscheiden. Gott führt uns nicht wie Marionetten an Fäden. Gott möchte eine freiwillige Erwiderung seiner Liebe, und darum leidet er in seiner Liebe. Leidet an dem Unvermögen, dem Zerstörerischen, ja Selbstzerstörerischen, das Menschen zu eigen ist. Das Entscheidende ist, dass Gott uns nicht verlässt."

Gott verlässt uns nicht ...

Es ist vielleicht ein gewagter Sprung. Doch die Predigt kam mir jetzt - fünf Jahre später - auch wegen eines Buches wieder in den Sinn, das von Marionetten handelt: Herzfaden von Thomas Hettche. Es ist die Geschichte der Augsburger Puppenkiste, doch in Wahrheit viel mehr. Es geht um Marionetten, die zum Leben erwachen - und mit ihnen die Menschen. Es ist der Herzfaden, der das bewirkt. Der Herzfaden, erklärt der Vater seiner Tochter, sei der wichtigste einer Marionette: "Nicht sie wird mit ihm geführt, sondern mit ihm führt sie uns. Der Herzfaden einer Marionette macht uns glauben, sie sei lebendig, denn er ist am Herzen der Zuschauer festgemacht."

Wer weiß, vielleicht ähneln wir Marionetten doch mehr, als die Pfarrerin meinte. Denn es gibt diesen Faden, diese Verbindung zwischen Himmel und Erde, zwischen Gott und den Menschen. Nicht in dem Sinne, dass Gott unsere Schritte lenkt wie der Spieler die der Puppen. Denn unser freier Wille ist ein Teil seiner Schöpfung. Sondern weil da mehr ist. Ein Faden, der zu Gott führt. Wenn Gott ihn führt, macht der Herzfaden mich nicht glauben, ich sei lebendig. Er macht mich lebendig.

An diesem Faden hänge ich gern. Und sei er noch so dünn. Denn der Herr, mein Gott, ist ein barmherziger Gott. Er verlässt mich nicht. Auch wenn mir das Leben um die Ohren fliegt. Und ich keinen Ausweg finde.

Der Herzfaden reißt nie ab.