Ich habe einen Lieblingsplatz in der Kirche. Auf einer Seitenbank, wenn man reinkommt links. An der Mauer. Da kann man sich anlehnen. Und man sieht mich nicht, wenn man die Kirche betritt. Das mag ich.
Ich mag auch den Blick von dort. Auf die hohen Fenster gegenüber, mit Jakobus und Philippus, besonders wenn am Vormittag die Sonne hindurchscheint, als würde Gott nachschauen, ob alles in Ordnung ist. Auf Jesus am Kreuz, mit seinem versonnenen Blick. Und auf den Kerzenständer vor dem Marienaltar, nicht weit von meinem Platz entfernt, mit den kleinen rot-flackernden Leuchtpunkte. Zwei Kerzen sind immer von mir. Für die Brüder. Oder für Menschen, die’s grad brauchen. Da gibt’s immer jemanden.
Da sitze ich oft. Meist blicke ich abwechselnd auf die Kerzen und auf Jesus. Und rede mit ihm, recht dreist manchmal: "Hilf dem Freund! Rette die Frau, die gerade operiert wird! Denk an das Kind, das Angst vor der Schule hat! Mach was!" So in der Art.
Jesus kennt das schon.
Bei ihm verstelle mich nie. Ich muss im Leben eh schon oft genug so tun als ob. Höflich sein, obwohl ich mich ärgere. Nichts sagen, obwohl mir danach ist. Trösten, obwohl ich selbst Trost brauche. Tränen trocknen und die eigenen verstecken.
Oft höre ich einfach nur Musik, mit Kopfhörer und sehr laut. Ich glaube nicht, dass Jesus das stört. Er ist nichts anderes von mir gewohnt. Zu simulieren wäre sinnlos. Das nähme er mir nicht ab. Er kennt mich. Dafür vertragen wir uns eigentlich ziemlich gut.
In letzter Zeit war etwas anders.
Da saß ich auf meiner Bank. Und empfand nichts. Ich redete mit Jesus. Und er blieb stumm. Ich brüllte ihn an. Und es änderte sich nichts. Ich schaute auf die Kerzen. Und das Flackern war blass. Ich sah die Fenster, die Sonne. Und erkannte nichts, die Schönheit nicht und auch nicht das Licht. Ich blickte wieder auf Jesus. Und verstand nichts.
Ich wollte sehen. Doch mein Glaube blieb blind.
Dabei wusste ich, dass es den Glauben gibt und dass Gott da ist, irgendwo. Ich merkte aber nichts davon. Nicht im Gebet. Und auch nicht bei der Kommunion, die mir sonst so viel bedeutet. Ich spürte nichts.
Ich konnte nichts. Und wollte alles.
Später erzählte mir jemand von Mutter Teresa, von der Dunkelheit, die sie erlebt hatte. Ich habe mich nie näher mit ihr befasst. Zwar bewunderte ich sie für das, was sie getan hatte. Aber sonst? Nein. Und jetzt, auf einmal hörte ich von Dingen, die ich selbst nur zu gut kenne. Solche Sätze:
Der Platz Gottes in meiner Seele ist leer. In mir ist kein Gott. Er will mich nicht.
Vielleicht gibt es gar keinen Gott. Ich spüre eine unendliche Sehnsucht, an ihn zu glauben. Aber wenn es keinen Gott gibt - Himmel, was für eine Leere!
Vielleicht ist der Himmel ja doch nicht leer, dachte ich da. Vielleicht zeigt sich Gott nur anders, als ich’s mir vorstelle. Eben nicht im Gebet oder beim Abendmahl. Und macht, was er will. Und wie er‘s will. Womöglich hatte ich das selbst schon erlebt, ohne es zu ahnen. Weil ich‘s erst gar nicht für möglich hielt.
Da fiel mir eine Geschichte ein, die ich fast vergessen hatte. Auch die widerfuhr mir in der Kirche, als ich mal wieder da war, ganz allein, und Musik hörte, abschottungslaut, mit geschlossenen Augen und meinem verwundeten Glauben.
Es war ein Samstagmorgen. Den Zeitpunkt hatte ich mit Bedacht gewählt, weil ich niemanden sehen wollte und zu der Zeit fast nie jemand in der Kirche ist. Darum saß ich auch nicht auf meinem Platz im Schutze der Mauer, sondern irgendwo in der Mitte.
Plötzlich scheppert es neben mir, ratscht, quietscht Eisen auf Steinboden - wie Kreide auf der Tafel. Ich fahre zusammen. "Herrschaftszeiten!", wäre es mit um ein Haar entschlüpft, "muss das sein!?"
Es war der Mesner. Er reinigte die Lampen. Er balancierte auf einer Leiter, stieg hinauf und wieder herab, schob die Leiter geräuschvoll ein Stück weiter, immer das Putztuch in der Hand. Ich bot ihm meine Hilfe an. "Des passt scho ..." - So kamen wir ins Gespräch. Über Staub und Sauberkeit, Corona und Chorgesang, Nachlässigkeiten und Notwendigkeiten, über Anstand und Abstandsregeln und … und ...
Am Ende musste ich nur noch lachen. Beschwingt ging ich von dannen.
Es stimmt: Gott zeigt sich, wie er will. Nie im Leben hätte ich gedacht, dass er sich mal im Mesner zeigen würde.
Wie kleingläubig ich doch manchmal bin!