Ich habe einen Menschen kennengelernt, einen ganz besonderen: F. Das war am 19. Mai. Da war ich in Berlin. Und er auch. Wir kannten uns nicht. Doch als wir uns sahen, umarmten wir uns spontan, als hätten wir uns lange nicht gesehen. - Ja, es gibt solche Tage, an denen man Corona vergisst.
F. ist Polizist. Der 19. Mai war sein 34. Geburtstag.
Nächsten Dienstag sehen wir uns wieder. Und dann noch einmal und noch einmal und noch einmal. Und … wenn alles vorbei ist, dann hoffentlich auch. Dann will ich ihm eine Geschichte erzählen. Die wird er mögen. So einer ist er nämlich. Da bin ich mir sicher. Die Geschichte geht so:
Seit einigen Wochen habe ich einen kleinen Hund. Er ist nicht echt. Leider.
Es ist ein Kinderspielzeughund. Aus Filz. Mit rotem Filzhalsband, etwas ausgefranst. Der Hund ist eine Art Cocker-Spaniel-Mops-Terrier. Am ehesten noch Mops. Mit eingerolltem Mopsfilzkringel. Er steht leicht schief, als würde er ein Bein heben, allerdings ein Vorderbein. Er hat ein unglaublich liebes Gesicht. Mit großen runden Filzohren und kleinen runden Filzknopfaugen. Mitgenommen sieht er aus, ein bisschen zerrupft.
Als habe er schon Einiges erlebt in seinem kleinen Spielzeugleben.
Wir fanden ihn, als wir das Büro des Bruders ausräumten. In einer abschließbaren Schublade. Zwischen Papieren und Briefumschlägen und Patientenakten und Rezeptblöcken und Tesafilm und kleinen Schokoladenvorräten. Was man halt so braucht als Arzt.
Da lag er, der kleine Filzmops.
Und nun steht er bei mir.
Manchmal schauen wir uns an, ein bisschen traurig, wir zwei. Und er erzählt mir von Fritz‘ Alltag, von dem ich nie etwas erfuhr. Da war der Bruder eisern. Kein Wort kam ihm über die Lippen, wenn es um seinen Beruf ging. Nie verriet er, wen er behandelte. Nie, um welche Krankheiten es gerade ging. Das Arztgeheimnis war ihm heilig.
Wenn ich den Hund betrachte, ist der Bruder plötzlich da. Ich kann ihn sehen. Und hören. Und ich stelle mir vor, wie beruhigend er gewirkt haben muss auf seine Patienten, die vielleicht nicht weiterwussten. Und ich stelle mir vor, wie er den Hund zuweilen in den Händen hielt, wenn er selbst mal nicht weiterwusste. Und ihn womöglich um Rat fragte.
Wer weiß das schon.
Seither ist der Hund kein Spielzeug mehr für mich, auch wenn er das natürlich ist. Denn er lebt und erzählt vom Leben. Von seinem. Und von dem des Bruders.
Der kleine Fritz-Hund ist mir heilig. Er ist ein Zeichen. Er ist Nähe. Er führt mich nicht fort aus dieser Welt, auch wenn ich mich manchmal wegwünsche. Nein. Der Fritz-Hund führt mich tiefer in die Welt hinein: ins Leben. - Das ist es wohl, was man ein Sakrament nennt.
Ich will gar keinen echten Hund. Ich will nur den, den ich schon habe.
Der Hund würde F. gefallen. Darum ist die Geschichte auch für ihn.