Könnte mal jemand die Neunmalklugen da draußen abstellen? Titelt der Spiegel doch tatsächlich in dieser Woche: „Wie kommen wir da wieder raus?“ und thematisiert damit, was allenthalben in Talkshows zum Coronavirus zu hören ist vom Kontaktverbot und Shutdown, vom drohenden Zusammenbruch der bestehenden Ordnung, der totalen Überwachung und vom Wir-wollen-raus … Um schließlich die ultimative Frage zu stellen: Wie lange dürfen Demokratien den Menschen die Freiheit derart beschneiden? Wie lange lassen die sich den Ausgang verbieten? - Als seien Politiker, die sich den Rat der medizinischen Fachleute einholen, des Teufels.
Dazu kommt von einschlägigen Besserwissern der Hinweis an die Kirchen, dass sie doch gerade jetzt ein Zeichen setzen müssten, Gottesdienste abhalten, Verbote hin, Verbote her, denn was sei denn eine Kirche ohne Menschen …
JA, auch ich will nicht, dass das System kollabiert. JA, auch bin gegen einen Staat, der alles weiß über mich. JA, auch ich will irgendwann wieder raus und Leute treffen, ich will Hände schütteln und Freunde treffen und umarmen und umarmt werden. Ich will ins Kino gehen, in Konzerte, will wieder singen! Nicht allein, sondern mit dem Chor. JA, und irgendwann will ich auch wieder in einen Gottesdienst gehen mit Abendmahl und allem Drum und Dran.
Aber ist es wirklich das, worum es gerade geht?
Vielleicht können wir auch mal über den eigenen Tellerrand schauen. Auf andere Länder.
Vielleicht können wir uns vergegenwärtigen, was Menschen dort tun, um andere zu retten.
Und etwas demütiger werden.
Stattdessen lassen wir uns in eine apokalyptische Verirrung treiben und horten Klopapier, was das Zeug hält, klauen Desinfektionsmittel und Atemschutzmasken aus Praxen und Kliniken, wo sie für manche Patienten lebensnotwenig sind und von Ärztinnen und Ärzten, von Krankenschwestern und Pflegern dringend gebraucht werden. Und posten dann auch noch vermeintlich witzige Bilder.
Es ist zum Davonlaufen!
Vor ein paar Tagen sah ich eine Todesanzeige. Sie stand in der Zeit. Mehr als zwanzig italienische Priester waren aufgelistet, die am Corona-Virus starben. Weil sie bei den Infizierten geblieben sind. Allen Warnungen zum Trotz. Die meisten stammten aus dem Bistum Bergamo.
Ich las den Bericht eines jungen Arztes aus der Lombardei. Und noch immer kommen mir die Tränen. Er arbeitet in Bergamo.
"Niemals, auch nicht in dunkelsten Albträumen, hätte ich mir vorgestellt, zu erleben, was hier in unserem Krankenhaus seit drei Wochen vor sich geht. Der Fluss dieses Albtraums wird immer nur größer. Zuerst kamen einige Infizierte, dann Dutzende, dann Hunderte, und jetzt sind wir nicht mehr zuerst Ärzte, nein, wir sind zu Sortierern am Band geworden. Wir entscheiden, wer leben und wer nach Hause geschickt werden soll, um zu sterben. (…)
Vor neun Tagen kam ein 75 Jahre alter Priester zu uns. Er war ein freundlicher Mann, hatte ernsthafte Atemprobleme, brachte aber eine Bibel mit. Es beeindruckte uns, dass er sie den anderen vorlas und den Sterbenden die Hand hielt.
Wir waren alle zu müde, entmutigt, psychisch und physisch fertig, um ihm zuzuhören. Jetzt aber müssen wir es zugeben: Wir Menschen sind an unsere Grenzen gekommen. Wir sind erschöpft, wir haben zwei Kollegen, die gestorben sind, andere von uns wurden infiziert. Wir müssen erkennen, dass wir Gott brauchen.
Wir bitten ihn nun um Hilfe, wenn wir ein paar freie Minuten haben. Wir reden miteinander und können es noch nicht glauben, dass wir als Atheisten jetzt jeden Tag auf der Suche nach Frieden sind. Dass wir den Herrn bitten, uns zu helfen, uns Kraft zu schenken, damit wir uns um die Kranken kümmern.
Gestern ist der 75-jährige Priester gestorben."
Seither will ich beten. Einfach nur beten.
Für den Arzt aus der Lombardei. Für alle, die in Krankenhäusern arbeiten. Für die, die nicht Abschied nehmen dürfen. Für die Traurigen. Und die Einsamen.
Ich will beten und Gott danken für das, was möglich ist.
Dass ich in die Kirche gehen kann. Um dort eine Kerze anzuzünden.
Jeden Tag.
Ich will Hoffnung hamstern!