Im Dezember schrieb ich ein Stück übers Vaterunser: „Die Abrechnung“. Ich hab Gott Dinge um die Ohren gehauen, dass es nur so krachte. Über den Unsinn, den man beten soll.
Über die Phrase, „Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden …“, wütete ich: „Wenn Gottes Wille auf Erden geschehen würde, wäre der Typ nie im Leben fünfhundert Kilometer quer durch die Republik gefahren, das Messer in der Tasche … undsoweiter.“ Über den Satz, „… sondern erlöse uns von dem Bösen“, das: „Warum hat Gott uns nicht von dem Bösen erlöst? Warum hat er den Mann nicht einfach ein Anti-Aggressionstraining machen lassen, statt meinen Bruder …“
Den Rest lasse ich lieber weg.
Und dann kommt 2020 eine Geschichte daher, die so voll Verzweiflung ist, dass meine Abrechnung geradezu harmlos war. Es ist die Geschichte, auf der die Jahreslosung fußt: „Ich glaube; hilf meinem Unglauben!“
In der Lutherbibel heißt sie: „Die Heilung eines besessenen Knaben“. In der Einheitsübersetzung: „Die erfolglosen Jünger“. Das finde ich viel besser, weil es den eigentlichen Kern der Episode trifft. Natürlich geht es um den Knaben, den Jesus heilt, und den Vater, der voller Zweifel ist. Es geht aber vor allem um die Jünger, die einfach nicht verstehen, was Jesus ihnen beibringen will. Es geht nicht nur tatsächlich um die Jünger, Jesus selbst geht es um seine Jünger!
Und damit auch um mich.
Die Geschichte, die niemand besser erzählen kann, als die Bibel selbst, geht so (Mk 9,14-29):
Als sie (Jesus, Petrus, Jakobus und Johannes) zu den anderen Jüngern zurückkamen, sahen sie eine große Menschenmenge um sie versammelt und Schriftgelehrte, die mit ihnen stritten. Sobald die Leute Jesus sahen, liefen sie in großer Erregung auf ihn zu und begrüßten ihn. Er fragte sie: Warum streitet ihr mit ihnen? Einer aus der Menge antwortete ihm: Meister, ich habe meinen Sohn zu dir gebracht. Er ist von einem stummen Geist besessen; immer, wenn der Geist ihn überfällt, wirft er ihn zu Boden und meinem Sohn tritt Schaum vor den Mund, er knirscht mit den Zähnen und wird starr. Ich habe schon deine Jünger gebeten, den Geist auszutreiben, aber sie hatten nicht die Kraft dazu. Da sagte er zu ihnen: O du ungläubige Generation! Wie lange muss ich noch bei euch sein? Wie lange muss ich euch noch ertragen? Bringt ihn zu mir! Und man führte ihn herbei. Sobald der Geist Jesus sah, zerrte er den Jungen hin und her, sodass er hinfiel und sich mit Schaum vor dem Mund auf dem Boden wälzte. Jesus fragte den Vater: Wie lange hat er das schon? Der Vater antwortete: Von Kind auf; oft hat er ihn sogar ins Feuer oder ins Wasser geworfen, um ihn umzubringen. Doch wenn du kannst, hilf uns; hab Mitleid mit uns! Jesus sagte zu ihm: Wenn du kannst? Alles kann, wer glaubt. Da rief der Vater des Knaben: Ich glaube; hilf meinem Unglauben! Als Jesus sah, dass die Leute zusammenliefen, drohte er dem unreinen Geist und sagte: Ich befehle dir, du stummer und tauber Geist: Verlass ihn und kehr nicht mehr in ihn zurück! Da zerrte der Geist den Knaben hin und her und verließ ihn mit lautem Geschrei. Er lag da wie tot, sodass alle Leute sagten: Er ist gestorben. Jesus aber fasste ihn an der Hand und richtete ihn auf und er erhob sich. Jesus trat in das Haus und seine Jünger fragten ihn, als sie allein waren: Warum konnten denn wir den Dämon nicht austreiben? Er antwortete ihnen: Diese Art kann nur durch Gebet ausgetrieben werden.
…
Die Jünger sind die eigentlich Ungläubigen. Nicht der Vater, der Jesus anfleht: „Hilf meinem Unglauben!“ Jesus verzweifelt geradezu an den Jüngern, wenn er ihnen entgegenschleudert: „O du ungläubige Generation! Wie lange muss ich noch bei euch sein? Wie lange muss ich euch noch ertragen?“
Ihnen gibt er aber auch die Lösung an die Hand. Ihnen - und damit auch mir.
Die Lösung ist das Gebet.
Wenn ich nicht mehr weiterweiß, selbst wenn „der stumme Geist“ Besitz von mir ergreift und mich zu Boden wirft, weil das Schlimmste geschieht, hilft das Gebet. Mehr noch: „Diese Art kann nur durch Gebet ausgetrieben werden“, wie Jesus sagt.
Das ist die eigentliche Botschaft der Geschichte.
Und auf einmal merke ich, wie sich meine Verzweiflung auflöst. Dass es nichts macht, dass ich das Vaterunser zurzeit nicht mitsprechen kann, dass ich damit hadere, weil ich es nicht verstehe. Weil ich immer zu Gott beten und ihn bitten kann, da zu sein, mir zu helfen, die Dinge auszuhalten, und mich zu stärken.
Wenn nicht mit den Worten Jesu, dann eben mit meinen.