Wenn jemand stirbt, den man liebt, ist das mit dem Glauben so eine Sache. Da kann man schon mal hadern mit dem „lieben Gott“. Wenn aber der, der einem nahe ist, einem Gewaltverbrechen zum Opfer fällt, wächst der Zweifel ins schier Unermessliche.
Und wenn man dann auch noch Sätze liest wie die, die just zu der Zeit im Impulskalender für die Advents- und Weihnachtszeit stehen: „Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit: eine Zeit zum Gebären und eine Zeit zum Sterben, (…), eine Zeit zum Töten und eine Zeit zum Heilen (…), eine Zeit zum Weinen und eine Zeit zum Lachen, eine Zeit für die Klage und eine Zeit für den Tanz.“ (Kohelet 3,1-4) … dann fragt man sich: Wo ist eigentlich dieser Gott?
Alles hat seine Stunde, selbst die „Zeit zum Töten“? Und wann soll sie je kommen, die „Zeit zum Heilen“?
Als ich kürzlich am Bahnhof Berlin-Südkreuz ankam und dort auf die S-Bahn wartete, schwebte etwas durch die Luft. Etwas Kleines, Hellgrauweißes. Langsam wehte es in seiner Leichtigkeit dahin und ließ sich auf meinem Mantelkragen nieder. Es war eine Feder. Babyvogelfederweich. Ich nahm sie, betrachtete sie und legte sie in meine Geldbörse.
Am andern Tag sollte mein jüngerer Bruder beerdigt werden. Klassisch sollte es zugehen. Gottesdienst mit Liedern, Psalm 102, Lesung aus dem 1. Korintherbrief (Vers 13), Bonhoeffers Glaubensbekenntnis, Predigt, Lesung des Rilke-Gedichtes „Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen“, Musik von Bach. Und Filmmusik. Musik aus Filmen, die der Bruder mochte. Das hatten sich die Kinder gewünscht.
Aus dem Paten „Love Theme“, für Klavier und Violine. Und aus Forrest Gump „Feather Theme“. Für Klavier. Und die Tränen rannen über mein Gesicht, hinab zur kleinen Feder in meiner Tasche.
Zur Fritz-Feder.
Vor elf Jahren, nach dem Tod des anderen Bruders, erlebte ich schon einmal so eine seltsame Geschichte. Wieder und wieder hatte ich mich gefragt, wo er jetzt ist. Besonders an meinem ersten Geburtstag ohne ihn, nur wenige Wochen nach seinem Tod. Es war Mitternacht und ich schaute in den Himmel und ich rauchte, wie wir es immer zusammen getan hatten, und ich rief halb wütend, halb traurig ins Nichts hinein: „Wo bist du!?“ Und da geschah es, genau in diesem Moment: Ich sah eine Sternschnuppe! Ich lachte und weinte. Und blies mit aller Kraft den Zigarettenrauch in den Himmel. Zu ihm.
Den Andreas-Zigarettenrauch.
Ich will mir nichts vormachen. Und auch niemandem sonst. Die Fragen hören nicht auf. Oder die Zweifel. Auch die Zeit zum Heilen ist noch weit entfernt. Aber solche Zeichen kommen vielleicht doch nicht von ungefähr.
… und es kommt nach der Zeit zum Weinen doch wieder eine Zeit zum Lachen. Und nach der Zeit für die Klage irgendwann eine Zeit für den Tanz. Wer weiß das schon.
Den Brüdern würd‘s gefallen.