„Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden.“ Der Satz stammt von Kierkegaard. Und er stimmt. Bei mir jedenfalls. Mein Leben hat schon derart sonderbare Wendungen genommen, dass sich die Leute um mich herum nur wundern konnten. Wendungen, die auch ich nicht verstand. Deren Tragweite ich oft erst im Nachhinein erkannte.
Dass ich Jura studieren wollte, fiel mir in der Oper ein. Warum? Keine Ahnung. Jedenfalls stand mein Entschluss auf einmal fest und erwies sich als goldrichtig. - Zufall?
Als die Mauer fiel, suchte ich gerade meinen beruflichen Weg, von dem ich bis dahin keinen Schimmer hatte. Buchstäblich über Nacht wusste ich, dass ich schreiben will. In Berlin natürlich. Wo sonst? Was für ein Timing! - Ein Mentee von der evangelischen Journalistenschule nannte mich später ein „historisches Glückkind“. - Glück?
Kurz nach meinem Umzug nach München wurde mein Münchner Patenkind krank. Und wenige Jahre später mein Bruder, der auch hier lebte. Und ich hätte an keinem anderen Ort der Welt sein wollen. - Fügung?
In München singe ich wieder. Das wollte ich schon lange; mit der Zeitung in Berlin war das nicht zu vereinbaren. Mein Chor gehört zu einer Kirche, die ich von meinem Fenster aus sehen kann; das war einer der Gründe, warum ich mich für ihn entschieden hatte. - Noch so ein Wunder.
Gerade singen wir den Paulus von Mendelssohn Bartholdy. Und auf einmal entdecke ich Parallelen zu meinem Leben, dass ich aus dem Stauen nicht mehr herauskomme.
Als er, da er noch seinen jüdischen Namen Saulus trug, auf dem Wege nach Damaskus war, erleuchtet ihn plötzlich ein Licht vom Himmel, und er fällt auf die Erde und hört eine Stimme: „Saul, was verfolgst du mich?“ - und erschrickt: „Herr, wer bist du?“ - „Ich bin Jesus von Nazareth, den du verfolgst!“ Zitternd antwortet er: „Herr, was willst du, das ich tun soll?“ - „Stehe auf und gehe in die Stadt, da wird man dir sagen, was du tun sollst.“ - Und die Stimme der Christenheit singt: „Mache dich auf, werde licht! Denn dein Licht kommt, und die Herrlichkeit des Herrn gehet auf über dir.“ - ausgerechnet den Bibelvers, den ich erst vor Kurzem für meinen Leben gewählt habe!
Und Paulus? … „war drei Tage nicht sehend und aß nicht und trank nicht“. Und betet in einer herzzerreißenden Arie: „Gott, sei mir gnädig nach deiner Güte und tilge meine Sünden nach deiner großen Barmherzigkeit. Verwirf mich nicht von deinem Angesicht und nimm deinen Heiligen Geist nicht von mir.“ Er fleht um die Rettung seiner Seele - ausgerechnet mit den Worten meines Kindergebets!
Als er wieder sehen kann, steht er auf und lässt sich taufen. Er kehrt um, und nichts ist mehr wie es war, sein Glaube nicht und auch nicht sein Leben. Und wir, als Stimme der Christenheit, jubeln: „O, welch eine Tiefe des Reichtums der Weisheit und Erkenntnis Gottes! Wie gar unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege! Ihm sei Ehre in Ewigkeit, Amen!“ - Schwindelig kann einem da werden! Schwindelig vor Glück.
Ich hab ja schon viel gesungen. Aber wieso ausgerechnet nun den Paulus, der gerade jetzt so gut zu meinem Leben passt?
Ich weiß es nicht. Vermutlich kann ich auch das nur rückwärts verstehen, derweil ich weiter vorwärts lebe.
Eines habe ich gelernt: dass ich nicht planen kann, was wichtig ist. Weil meine Überlegungen unsicher und meine Gedanken einfältig sind, wie es in Salomos Gebet um Weisheit heißt, und seine Wege unerforschlich.
Also: nicht planen!
Das klingt so leicht. Ist es aber nicht. Ich will ja offen sein für das, was Gott mit mir vorhat. Ihn hören. Ihn sehen. Ihm folgen. Frei sein für ihn. Aber wie? Woher weiß ich, was er will?
Neulich erzählte mir jemand eine Geschichte, die dazu gut passt. - Seltsam, dass ich sie gerade jetzt hörte. Die Geschichte geht so:
Es regnet in Strömen, das Wasser hat bereits Straßen und Plätze überschwemmt. Ein Mann flieht aufs Dach seines Hauses. Die Wasserwacht kommt vorbei und ruft: „Kommen Sie!"- „Nein“, sagt der Mann, „Gott wird mich retten“. Das Wasser steigt, es hat inzwischen die Dachrinne erreicht, der Mann klammert sich an den Schornstein. Da kommt die Feuerwehr vorbei. „Kommen Sie!“ - „Nein“, ruft der Mann, „Gott wird mich retten.“ Das Wasser flutet nun auch das Dach, verzweifelt klettert der Mann auf den Kamin. In letzter Minute kommt ein Hubschrauber und lässt ein Seil herab. „Kommen Sie, bevor es zu spät ist!“ - „Nein, Gott wird mich retten!“
Am Ende ertrinkt der Mann. Im Himmel beklagt er sich bitterlich bei Gott: „Warum hast du mich nicht gerettet?“ Und Gott sprach: „Ich habe dir die Wasserwacht geschickt und die Feuerwehr und den Hubschrauber. Aber du hast mich nicht erkannt.“
Gott war da gewesen. Er hatte sich ihm offenbart. Durch andere.
Ja, auch so kann Gott sich zeigen. Man muss nur offen sein für die Signale. Das können ganz kleine, unscheinbare sein. Ein Bild, ein Blick, eine Begegnung - oder eben der Paulus.
Wohin mein Weg mich führen wird, weiß ich nicht. Ich kann mein Leben ja nicht vorwärts verstehen und rückwärts leben. Aber auf Gott hören, ihn suchen, vorwärts und rückwärts, das kann ich. Und das will ich.
Auch wenn ich nichts begreife. - Und nur vertrauen kann. Denn der Weg ist schon bereitet. Ich muss ihn nur gehen.