Kürzlich war ich in Israel. Mit einer Gruppe. Nie im Leben hätte ich mir träumen lassen, so etwas mal zu machen. Wenn ich im Ausland einer deutschen Reisegruppe begegne, suche ich das Weite.
Und dann das. Das mir!
Es war allerdings nicht irgendeine Gruppenreise. Es war eine Reise des Bayerischen Pilgerbüros. 30 Leute waren dabei, alle katholisch, bis auf zwei. Ein Priester begleitete uns ins Heilige Land. Täglich feierten wir die Messe. Täglich Brot und Wein. Täglich Jesus. Maria. Immer Gott.
Wir fuhren über den See Genezareth wie einst Jesus und seine Jünger, als ein gewaltiger Sturm aufkam, sodass das Boot von den Wellen überflutet wurde … und! … Jesus! … schlief! Wie die Jünger Angst bekamen und Jesus weckten und der ihnen sagte: Warum habt ihr solche Angst, ihr Kleingläubigen! Ich war doch immer bei euch … Wie Jesus aufstand und den Winden und dem See drohte … „und es trat völlige Stille ein“. (Matthäus 8,26)
Wir fuhren über den See wie nach dem Tode Jesu Simon Petrus und die anderen, die fischen ging und nichts fingen. Die am Ufer Jesus sahen und ihn nicht erkannten. Wie der sie wieder auf den See schickte, um das Netz auf der anderen Seite auszuwerfen, gleichsam die Perspektive zu wechseln, wie der Pfarrer später sagen würde. Wie sie es auswarfen … „und konnten es nicht wieder einholen, so voller Fische war es“. (Johannes 21,6)
Wir feierten die Messe auf dem Berg der Seligpreisungen, im Freien, in Tabgha, und Gott war ganz nah. Wir fuhren nach Nazareth, zur Verkündigungsbasilika, nach Kana, zum Berg Tabor, dem Ort der Verklärung Jesu, hielten inne am Jordan, reisten weiter nach Jerusalem …
Wir gingen den Kreuzweg und wer mochte, konnte eine Station lesen. Ich wollte, obwohl doch alle katholisch waren, aber es war mir egal, ich wollte unbedingt und ich wählte die dritte, die, an der Jesus zum ersten Mal fällt unter dem Kreuz. Und ich las und ich betete für mich, für uns:
„Der Weg, den Jesus geht, ist steil. Das Kreuz ist schwer; es lastet auf seinen Schultern. Es drückt ihn zu Boden. Die Menschen stehen um ihn herum. Alle schauen zu, aber niemand hilft. Jesus stützt sich mit der Hand ab, damit er nicht ganz zu Boden fällt. / Uns scheint oft unser Kreuz zu schwer. Ein Leid bedrückt uns. / Lasset uns beten: Herr Jesus Christus, das Kreuz hat schwer auf dir gelastet. Hilf uns, dass wir von unseren Sorgen nicht erdrückt werden. / Wir bitte dich, erhöre uns.“
Und ich hörte nichts und niemanden, keine Rufe, keinen Laut, und ich merkte den Trubel nicht, nicht die Menschen um mich herum, ich spürte nur das Gewicht, die Last … und schwieg.
Am andern Tag besichtigten wir Marias Geburtskirche St. Anna, und wir sangen, weil der Klang nirgends schöner ist. Wir hielten Gottesdienst in der Dormitio Abtei und machten Station in der Todesangst-Basilika, mitten im Garten Gethsemane.
Und zum ersten Mal berühre ich etwas, das von damals zeugt, und ich weiß nicht, warum. Es zog mich magisch dorthin, zum Felsen, auf dem sich Jesus zu Boden geworfen und gefleht hatte: „Mein Vater, wenn es möglich ist, gehe dieser Kelch an mir vorüber. Aber nicht wie ich will, sondern wie du willst.“ Und ich bete und weine und bete und weine … das hatte ich noch nie zuvor erlebt in einem Gotteshaus. Erst die Messe einige Stunden später kann mich trösten, in der Kapelle Dominus Flevit, der vielleicht schönsten Kirche Jerusalems, in die der Felsendom durchs Fenster nur so glüht. Und als hätte der Pfarrer geahnt, wie es mir zuvor ergangen war, bittet er mich, am Ende des Gottesdienstes einen kleinen Text vorzulesen, der auf wundersame Weise an den Beginn der Reise am See Genezareth anknüpfte:
„Mich von deinen Netzen fangen lassen, Herr, / von der Botschaft, / dass du mir alles Lebensnotwendige gibst, / danach sehne ich mich, Herr. / Mich von deinen Netzen emporheben lassen, / dorthin, wo du für mich ein notwendendes Leben bereithältst, / danach sehne ich mich, Herr.“
Von! seinen! Netzen! emporheben! lassen!
Acht Tage dauerte die Reise. Acht Tage war es warm und innig und geborgen. Acht Tage war es vertraut und gut. Acht katholische Tage, die mich verändert haben.
Nun bin ich wieder in München. Und ich sehne mich zurück nach Israel. Sehne mich nach der täglichen Messe, nach Brot und Wein, dem Kreuz. Sehne mich nach den Orten, an denen Jesus war, an denen er mir so nah war. Sehne mich nach Gott. Sehne mich nach seinen Netzen. Ich betrachte die Steine und Muscheln, die ich mitgebracht habe. Da ist dieser kleine Stein mit dem winzigen Herzen, der plötzlich am Jordan zu meinen Füßen lag. Oder die drei Muscheln vom See Genezareth. Die liegen jetzt auf der Fensterbank und schauen meinem Leben zu. Ich betrachte die kleine Ikone an der Wand neben meinem Schreibtisch, die ich in Israel gefunden habe, die „Verkündigung des Herrn“, mit Gabriel und Maria. Diese Haltung, dieses Gesicht der Maria, die sich so gefürchtet hatte. Und die Ja sagte zu ihrem Los, ihrem Leben: „Denn für Gott ist nichts unmöglich.“ (Lukas 1,37)
Wir beendeten die Reise in Emmaus, wo Jesus seinen Jüngern erschienen war und sich ihnen durch das Brechen des Brotes offenbart hatte. Eine Begebenheit, die in der Bibel mit Worten beschrieben ist, als seien sie für mich bestimmt: „Da wurden ihre Augen aufgetan und sie erkannten ihn; und er entschwand ihren Blicken. Und sie sagten zueinander: Brannte nicht unser Herz in uns, als er unterwegs mit uns redete und uns den Sinn der Schriften eröffnete?“ (Lukas 24,31-32)
Brannte nicht auch mein Herz in mir, als er unterwegs mit mir redete und mir den Sinn der Schriften eröffnete …?
Brennt nicht mein Herz immer noch in mir? Und immer mehr?