Seit dem 2. September sind wir 28 Crew-Mitglieder wieder allein an Bord der "Sea-Watch 4". Am Dienstag hörten wir im Morning-Briefing von Einsatzleiter Philipp Hahn, dass die erste Mission der "Sea-Watch 4" diejenige war mit den meisten Menschen über die längste Zeit an Bord eines Sea-Watch-Rettungsschiffes.
Constanze Broelemann, Jahrgang 1978, leitet die Graubündner Redaktion der evangelisch-reformierten Zeitung in Chur. Die Zeitung "reformiert" ist die auflagenstärkste evangelische Zeitung in der Schweiz. Außerdem arbeitet sie in Teilzeit im Pfarramt in der Schweiz und macht schwerpunktmäßig Konfirmandenarbeit.
Elf Tage lang hatte die "Sea-Watch 4" Menschen an Bord. Am 12. Tag konnten diese an die Italiener ausgeschifft werden. Genauso wie die Geflüchteten müssen wir als Crew nun an Bord unseres Schiffes bleiben und eine offizielle Quarantäne von 14 Tagen absolvieren. So haben es uns die italienischen Behörden verordnet. Wir sehen das pulsierende Palermo nur aus der Ferne und haben uns schon oft gewünscht, an Land gehen zu können.
Nach der hoch anstrengenden Mission hat die Crew zwei Tage abschalten dürfen und die Energie-Reserven aufgefüllt, vor allem mit Schlafen. Einige Crew-Mitglieder hatten seit der Abfahrt aus Burriana keine Nacht mehr durchgeschlafen. Trotz hoher Belastung konnte die Crew die erste Mission der "Sea-Watch 4" als Erfolg werten. Das rechtfertigen zum einen das sichere Ausschiffen der 354 Menschen, die Tatsache, dass erstmals die zwei Organisationen "Sea-Watch" und "Medicins Sans Frontieres" (MSF) miteinander an Bord waren und gearbeitet haben, sowie dass die "Sea-Watch 4" überhaupt ihren ersten Einsatz als Rettungsschiff fuhr.
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"Wir haben hier ein großes Schiff, das viel Arbeit macht", betonte Bootsmann Alessandro, der zu der ständigen Crew des Schiffes gehört. Diese Arbeit hat die Crew seit Montag wieder aufgenommen, denn an so einem Schiff muss permanent gewerkelt werden - auch während der Stehzeiten wie jetzt. Seit Tagen warten wir auf ein Boot, das uns neue Lebensmittel bringt. Daher haben wir am Montag alle Kühlschränke ausgewischt und alle Vorräte sortiert. Man muss sich vorstellen, dass in den Kühlschränken hier an Bord drei Personen Platz haben, so groß sind diese. Immer noch kochen wir selbst, da der Koch kurz vor Auslaufen des Schiffes verletzungsbedingt von Bord gegangen ist.
Das Schiff beziehungsweise die Decks haben wir komplett gereinigt und desinfiziert. Die "Sea-Watch 4" wird auf die nächste Mission vorbereitet. Einige von der Crew und auch das Team von "Ärzte ohne Grenzen" (MSF) sollen noch dabei sein, wenn das Bündnisschiff wieder in See sticht, um Menschen zu retten. Wann das sein wird, ist derzeit aber ungewiss. Vieles wird davon abhängen, ob die "Port-State-Control", eine Art obligatorischer TÜV für Schiffe in Italien, stattfinden wird. Erfahrungsgemäß fänden die Italiener immer etwas, um die Schiffe von Nicht-Regierungsorganisationen (NGO) festzusetzen, so wurde mir berichtet. Wie aktuell diese Befürchtung ist, zeigte eine Twitter-Nachricht vom Dienstag auf dem Account der Sea-Watch. Danach heißt es, dass das Aufklärungsflugzeug "Moonbird" von den italienischen Behörden "gegroundet" wurde. Im Klartext bedeutet das, dass das Flugzeug nicht mehr von Lampedusa aus starten darf. Die "Moonbird" unterstützt normalerweise die Schiffe der NGO`s mittels Aufklärungsflügen im Mittelmeer. Auch die "Sea-Watch 4" hat die "Moonbird" unterstützt.
Nachdem an Bord mehr Ruhe eingekehrt ist, habe auch ich ein wenig Zeit, über ein paar Dinge nachzudenken, die in der letzten Zeit passiert sind. Ich durfte viel Unterstützung erfahren, Menschen aus kirchlichen Kreisen, die interessiert waren an dem, was die Crew der "Sea-Watch 4" und auch ich hier machen und gemacht haben. Dafür bin ich sehr dankbar. Denn auf der anderen Seite musste ich auch Hasskommentare, Mails, deren Inhalt mir unerklärlich sind, und teilweise leider auch nicht zu Ende gedachte Meinungsäußerungen zu der Thematik entgegennehmen. "Das gehört dazu, wenn man sich positioniert", sagen mir Crew-Mitglieder.
Das Thema "Migration und Flucht" scheint hoch emotional zu sein. Definitiv - und das ist ein nicht wegzudiskutierender Fakt - existiert beides. Und zwar genau jetzt und hier, während einige von uns doch lieber davor die Augen verschließen würden. Genau jetzt fliehen Menschen, weil sie gefoltert werden. Genau jetzt gibt es Länder, in denen der Standard an Gerechtigkeit, Hygiene und Menschlichkeit viel, viel niedriger ist als das, was die meisten von uns kennen. Ganz gleich, ob einige dieser Geretteten kriminell werden oder auf den Straßen Europas landen, weil sie keine Aufenthaltsbewilligung bekommen. Die Alternative kann nicht sein, sie nicht vor dem Ertrinken zu retten. Es geht darum, Standards zu setzen. Was sind unsere Werte? Lassen wir Menschen ertrinken oder nicht? "Wir retten jeden, auch die Schwierigen", sagen sie hier an Bord. Und ja, es ist nicht einfach und niemand hat gesagt, dass es einfach wäre. Niemand hat den Menschen in Europa ein Paradies versprochen, wie mir eine E-Mail-Schreiberin unterstellte. Es geht um die Haltung. Lassen wir Menschen in den sicheren Tod fahren oder nicht? Was sind unsere Werte als Gesellschaft?
Im Übrigen - fast möchte ich es nicht mehr erwähnen - ist der so genannte "Pull-Faktor", der Zusammenhang zwischen der Präsenz der Rettungsschiffe und den Flüchtenden, widerlegt. Das ist nachlesbar in einigen Quellen im Netz. Die Menschen setzen sich auch ohne diese Rettungsschiffe auf ein Gummiboot. Und Menschen nicht zu retten, weil man ihnen ihn keine Weiterversorgung in Europa garantieren kann, empfinde als kein stichhaltiges Argument. Ich habe so viele Argumente gehört, die vielleicht hübsch gedrechselt klingen. Aber keines hat das Argument geschlagen, dass es unsere Pflicht ist, wenn wir denn einen Wertekanon haben, Menschen würdig zu behandeln, und das heißt auch, sie aus Seenot zu retten.
Die "Sea-Watch 4" ist ja eigentlich eine Notlösung, so wurde mir erzählt. Mit dem Schiff werde das gemacht, was eigentlich Aufgabe der Politik sei.