Mit nun 354 Menschen an Bord sucht "Sea-Watch 4" einen sicheren Hafen
Seenotrettungsschiff  "Louise Michel" von Künstler Banksy
©epd-bild/Thomas Lohnes
Der Hilferuf des Seenotrettungsschiffs "Louise Michel" (im Bild) wurde erhört: Die "Sea-Watch 4" übernahm rund 150 der Geretteten, die an Bord des vom bekannten Street-Art-Küntler Banksy gekauften im Mittelmeer treiben.
Am vergangenen Samstag (29.8.) hat die Crew der "Sea-Watch 4" weitere 150 Menschen an Bord genommen. Sie war der manövrierunfähigen "Louise Michel" zu Hilfe geeilt. Nun sucht das von der Evangelischen Kirche initiierte Seenotrettungsschiff fieberhaft nach einem sicheren Hafen. Für evangelisch.de ist die Journalistin und Pfarrerin Constanze Broelemann an Bord und schreibt in ihrem Blog:

Das von dem britischen Künstler "Banksy" gesponserte Rettungsschiff "Louise Michel" hatte in der Nacht von Freitag auf Samstag um Hilfe gerufen. Sowohl die offiziellen Küstenwachen als auch die "Sea-Watch 4", die zum Zeitpunkt nicht weit entfernt von der Insel Lampedusa kreuzte, wurden informiert. Noch in der Nacht nahm der Kapitän der "Sea-Watch 4" Kurs auf die maltesische Such- und Rettungszone, in der sich die "Louise Michel" befand.

Bilder, die ich nicht vergessen werde. Auf dem ehemaligen Patrouillenboot des französischen Militärs, der "Louise Michel", standen mehr als hundert Flüchtlinge und winkten uns, der "Sea-Watch 4" zu. Das schnelle, aber kleine Rettungsschiff war manövrierunfähig. Am Tag davor hatte das von Banksy pink bemalte Schiff bereits 89 Menschen aus dem Wasser gerettet. Informiert über das "Alarmphone" eilte die Crew zu einem weiteren Seenotfall mit 130 Personen. Diese Anzahl an Menschen konnte die "Louise Michel" nur noch stehend beherbergen. Weil nicht alle an Deck Platz hatten, wurden zwei Rettungsinseln mit Menschen an dem Schiff befestigt. Die Leiche eines Menschen, der bereits auf der Flucht verstorben war, musste die Crew aus dem Gummiboot bergen und in einem "Body Bag" an Deck an Bord aufbewahren. Es war die Rede von fünf weiteren Menschen, die vermutlich während der Flucht ertrunken sind.

Der international bekannte Street-Art-Künstler Banksy unterstützt die pinke "Louise Michel", an der zwei Rettungsinseln mit Menschen befestigt wurden, da nicht alle Geretteten an Bord Platz fanden.

Die Crew der "Sea-Watch 4", die zu diesem Zeitpunkt bereits 200 Menschen von drei anderen Rettungsaktionen versorgte, erklärte sich bereit, weitere 153 Menschen an Bord zu nehmen. Für ihre Unterbringung wurde das Vorschiff vorbereitet: ein Segel gegen die Sonne gespannt und etwas Plastikboden ausgelegt, damit die Geretteten nicht auf dem blanken Stahl liegen mussten. Die italienische Küstenwache übernahm 46 medizinisch schwierige Fälle, darunter einige schwangere Frauen, die im siebten bis achten Monat schwanger sind, sowie die Leiche. Die maltesische Küstenwache bot an, eventuelle weitere "schwere Fälle" aufzunehmen, die es aber dann nicht mehr gab. Das Boot der Malteser war daher nur von Ferne zu sehen, obwohl sich alles in der Such- und Rettungszone ihres Landes abspielte.

Wieder waren viele Notfallduschen nötig, um die Menschen von dem gefährlichen Salzwasser-Benzin-Gemisch zu befreien. Das medizinische Team musste 20 Menschen, die bereits größere chemische Verbrennungen hatten, behandeln. Nur mit Rescue-Decken und weiteren grauen Decken bekleidet, kamen die Neu-Geretteten auf dem Vorschiff der "Sea-Watch 4" an. Die schwarzen T-Shirts und Jogginghosen, die die Crew bereits an viele Flüchtlinge verteilt hatte, wurden knapp. Mal wieder zeigte man sich an Bord kreativ und funktionierte schwarze Sweater, von denen es noch genug hatte, zu Hosen um. "The new fashion", scherzten einige Afrikaner. Ebenso "fashion" trotz der prekären Lage war, wie sich viele Afrikaner ihre grauen Wolldecken umschlungen. Teilweise mit elegant geknotet Decken kamen sie auf dem Achterdeck an und wurden von den anderen augenzwinkernd mit "Bon arrivée" begrüßt. Schließlich wussten die anderen anhand des Outfits genau, in welchem Status die Neuankömmlinge waren.

Rund 150 Gerettete mehr sind an Bord der "Sea-Watch 4". Die Vereinten Nationen haben eine sichere Ausschiffung von weit mehr als 400 auf dem Mittelmeer festsitzenden Flüchtlingen und Migranten gefordert.

Allen kleinen Scherzen am Rande zum Trotz ist die "Guest-Care" in einer Ausnahme-Situation, sagt Chris Grodotzki, Sprecher von "Sea-Watch 4" an Bord. Auch trotz aller Vorbereitungen sei es in der Begrenztheit eines Schiffes auf hoher See eine Herausforderung, eine solche Menge an Menschen möglichst human unterzubringen. Die Crew in der Gästeküche verteilt am Morgen Schwarztee und Protein-Riegel und geht sofort zum Kochen von Reis und Couscous über.

Jede Essensauteilung erfolgt mit einer vorherigen Handdesinfektion aller, am Abend wird zusätzlich bei allen 353 Menschen Fieber gemessen. Drei Toiletten und zwei Duschen sind einfach zu wenig für so viele Menschen. "Wir haben jetzt auch mehr Decks aufgefüllt als wir aufgrund der Corona-Situation wollten", sagt Grodotzki. Aber zu sagen "Entschuldigung, wir haben keinen Platz mehr für euch", sei keine Option gewesen, so der Sea-Watch-Sprecher. Seines Erachtens macht die Crew einen guten Job, auch was die Corona-Maßnahmen betreffe. So habe man die Menschen von dem vierten Boot auf das Vorschiff gebracht und separiert. 

Der Missionsleiter Philipp Hahn (v.l.n.r.), der Kapitän der "Sea-Watch 4" Stevan Nonkovic und der 2. Offizier beobachten die Rettungsaktion von der Brücke aus und hoffen auf einem sicheren Hafen.

Die Lage an Bord ist derzeit im Rahmen der Möglichkeiten stabil. Nach Angaben des Teams von "Ärzte ohne Grenzen" (MSF) betreut das medizinische Personal nach wie vor viele Menschen - auch wegen psychischer Traumata. Die Folterungen in Libyen sowie die Tatsache, dass einige hier an Bord Menschen vor ihren Augen haben ertrinken sehen, seien nicht verarbeitet. So fordert Hannah Wallace Bowman, Sprecherin von MSF hier an Bord, schnell einen sicheren Hafen für diese Menschen, die bereits genug durchgemacht hätten: "Eine Rettung ist erst abgeschlossen, wenn die Menschen an einem sichern Ort gebracht wurden. Diesen Menschen muss erlaubt werden, an Land zu gehen", so die Britin.

Derzeit laufen im Hintergrund Verhandlungen mit den italienischen Behörden. Ein Grund für die Verzögerung sei laut eigenen Angaben, dass die Italiener erst ein Schiff chartern müssten, auf das sie seit einiger Zeit alle Flüchtlinge zur Quarantäne bringen. Vorher dürfe niemand an Land. Auch wir als Crew werden uns auf eine nochmalige zweiwöchige Quarantäne-Zeit an Bord einstellen müssen. Aber zuerst brauchen wir einen Hafen!