Das nicht seetüchtige, kleine Glasfaserboot wurde zuerst von einem kleineren privaten Rettungsschiff, der "Louise Michel", gesichtet. Nachdem die Crew der "Louise Michel" die Situation stabilisiert hatte, erbat sie Unterstützung der "Sea-Watch 4", dem größeren und besser ausgerüsteten Schiff. Als sich der Zustand zweier Passagiere des winzigen Bootes verschlechterte, wurden sie in einer Notmaßnahme an Bord der "Louise Michel" gebracht.
Constanze Broelemann, Jahrgang 1978, leitet die Graubündner Redaktion der evangelisch-reformierten Zeitung in Chur. Die Zeitung "reformiert" ist die auflagenstärkste evangelische Zeitung in der Schweiz. Außerdem arbeitet sie in Teilzeit im Pfarramt in der Schweiz und macht schwerpunktmäßig Konfirmandenarbeit.
Nachdem die "Sea-Watch 4" eingetroffen war, wurde das medizinische Team von "Ärzte ohne Grenzen" entsandt, um eine erste Triage durchzuführen. Nach einer Beurteilung durch den Arzt wurden sie – zusammen mit den übrigen fünf Überlebenden – auf die "Sea-Watch 4" zur weiteren Untersuchung in das Schiffshospital gebracht. Ihr Zustand ist jetzt stabil, aber sie stehen weiterhin unter Beobachtung.
Geretteter hielt Koran in seinen Händen
Nur mit einer Jeans und Turnschuhen bekleidet trat einer der geretteten Männer auf das Deck des Bootes. In der Hand hielt er ein Buch, den Koran. Ehe er sich neben seine Mitflüchtenden hockte, ließ er sich auf dem Boden des Schiffes nieder und dankte seinem Gott. Von meiner Crew-Kollegin Nora, die für die Betreuung der Gäste an Bord zuständig ist, erhielt ich den Job, Wasser an die Geretteten zu verteilen. Dankbar nahmen die jungen Männer die kleinen Flaschen entgegen und setzen sich ein wenig verschüchtert auf den Boden des Bootdecks. Die erste Rettungsaktion der "Sea-Watch 4" lief souverän ab.
Auch für mich war es das erste Mal, dass ich Menschen begegnete, die sich ohne Absicherung auf eine lebensgefährliche Reise nach Europa machten. Die Menschen, die ich sah, sind wie du und ich, sie hätten genauso gut in meiner Stadt leben können. Was treibt diese Menschen an, auf eine so gefährliche Reise zu gehen, frage ich mich?
Hitze und Seekrankheit
Von weitem sehe ich auf dem Meer das Fiberglas-Boot, auf dem die Männer wohl die insgesamt 150 Seemeilen bis Europa auf sich nehmen wollten. Nicht einmal ein Drittel des Weges hatten sie geschafft, als wir sie auffanden. Doch schon zu dem Zeitpunkt waren sie von Hitze und Seekrankheit so geschwächt, dass sie das Boot nicht mehr selbst fahren konnten. Bloß zwei einfache Schläuche von Autoreifen dienten ihnen als Rettungsmittel. Teilweise ohne Kompass und Satellitentelefon begeben sich solche Flüchtenden auf die 270 Seemeilen (500 Kilometer) lange Reise nach Europa.
Nach der "International Convention for the Safety of Life at Sea" (SOLAS), Artikel 33 einer UN-Konvention von 1974 zur Schiffsicherheit, ist der Kapitän eines Schiffes verpflichtet, Menschen in Seenot zu retten. "Dass die Geretteten in Seenot waren, war offensichtlich", sagt "Sea-Watch 4" Kapitän Stevan zu mir. Dass das kleine Fiberglas-Boot untauglich ist weitere 100 Seemeilen bis in einen europäischen Hafen zu schultern, ist sogar für einen Laien wie mich erkennbar. Neben vielen weiteren Punkten ist in dem Artikel 33 der SOLAS vermerkt, dass Kapitäne, die Menschen aus Seenot gerettet haben, diese an Bord möglichst human behandeln sollten.
Zur Seenotrettung verpflichtet
Auch das "Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen" (UNCLOS) ist ein internationales Abkommen des Seevölkerrechts, das alle Nutzungsarten der Meere regeln soll, und es verpflichtet Kapitäne zur Rettung auf See. In Artikel 98 steht, dass der Kapitän angehalten ist jede Person, die auf See in Not ist, zu retten.
Zu meinem Erstaunen reagierte keine der angeschriebenen und angefunkten umliegenden Küstenwachen auf den Seenotfall. Die "Sea-Watch 4" hatte sowohl die italienische, die maltesische und die libysche Küstenwache informiert. Letztgenannte meldete sich irgendwann über Funk, dass die "Sea-Watch 4" doch ihren Kurs ändern und das Gebiet verlassen sollte. Eine Aufforderung, die der Küstenwache eigentlich nicht zusteht, da sich die "Sea-Watch 4" die ganze Zeit in internationalen Gewässern befand.
Irgendwann näherte sich dann von der Steuerbord-Seite ein graues Schnellboot und man versicherte mir: "Das sind sie", die libysche Küstenwache. Die Schiffe fuhren aneinander vorbei, während die Crews sich gegenseitig durch Ferngläser beobachteten. "Diese Schiffe finanzieren wir Europäer", sagte ein Crewmitglied zu mir, während die Libyer an uns vorbeifuhren.