"Wir sind auf See. Endlich. Gut vorbereitet, nimmt die "Sea-Watch 4" Kurs auf die libysche Küste. Ich nutze die Zeit vor den ersten Rettungsmanövern, um mit einigen meiner Crew-Mitglieder über ihre Motivation für die Mission zu sprechen."
"Die Evangelische Kirche schickt ein Rettungsschiff!" Schon die Ankündigung Ende 2019 sorgte für gewaltigen Wirbel - und für viel Spendengeld. Bis es soweit war - ein Schiff gefunden, ins Mittelmeer überführt und hergerichtet, eine Mannschaft angeheuert - vergingen noch einmal acht Monate. Außerdem war ja auch noch Corona. Mitte August schließlich lief die "Sea Watch 4" zu ihrem ersten Rettungseinsatz aus. Mit an Bord: unsere Kollegin Constanze Broelemann von der Kirchenzeitung "reformiert" aus der Schweiz. In 21 Blogeinträgen schilderte sie ihre Eindrücke. Die Texte sind mit heißer Nadel gestrickt, schöpfen aus dem unmittelbar Erlebten - vom quälenden Warten über die Dramatik, wenn Flüchtlinge an Bord genommen werden bis zum Gezerre mit der italienischen Hafenbehörde. Hier wird der Alltag der Seenotretter konkret, und jeder/jede Leser:in kann sich ein eigenes Bild machen.
Jörg Echtler
Yippie! Als es am vergangenen Samstag "Leinen los" hieß, habe ich Tränen in den Augen einiger Crew-Mitglieder gesehen. Monate des harten Einsatzes, den Menschen für dieses Schiff und seine Mission teilweise in ihrer Freizeit geleistet haben, lassen mich staunen.
Constanze Broelemann, Jahrgang 1978, leitet die Graubündner Redaktion der evangelisch-reformierten Zeitung in Chur. Die Zeitung "reformiert" ist die auflagenstärkste evangelische Zeitung in der Schweiz. Außerdem arbeitet sie in Teilzeit im Pfarramt in der Schweiz und macht schwerpunktmäßig Konfirmandenarbeit.
Es fährt und ja - ruhig gleitet die "Sea-Watch 4" durch die Gewässer des Mittelmeeres. Ein großes und stabiles Schiff, dass uns Neulingen auf See nicht allzu große "sea sickness" (Seekrankheit) beschert hat. Durch die Bullaugen meiner Kabine sehe ich nur noch das Blau des Meeres. Was viele von uns hier an Bord neben der Notwendigkeit des humanitären Einsatzes eint, ist die Liebe zum Meer. Auch für mich war das Meer schon immer mein Lieblingselement.
Seit wir auf See sind, haben wir wechselnde Schichten auf der Brücke, denn natürlich muss so ein Schiff jede Minute überwacht sein. In der SAR-Zone werden sich zu dem "Officer of the watch" und einer zweiten Person, die seerechtlich obligatorisch ist, weitere Personen gesellen. In der Such- und Rettungszone vor Libyen werden wir im Schichtsystem von der Brücke aus Ausschau nach Menschen in Seenot halten. Ich bin schon sehr gespannt auf meinen Einsatz.
Am Sonntag konnte die Crew einen für wohl lange Zeit nicht mehr vorkommenden "day off" (freien Tag) genießen. Für mich als Journalistin die perfekte Gelegenheit, einige meiner Crew-Kollegen besser kennen zu lernen. Denn, wenn wir erstmal im Einsatzgebiet sind, wird wenig Zeit für Gespräche sein. Auf dem Achterdeck spreche ich mit Jakob aus Wien über seinen Hintergrund, seine Motivation und seine Vision.
Der 29-Jährige hat Theologie, Germanistik und internationale Entwicklung studiert und arbeitet seit drei Jahren als Deutsch- und Religionslehrer an einem Wiener Gymnasium. Seit zwei Jahren ist er auch beim Verein Sea Watch aktiv und kümmert sich ehrenamtlich ums "Crewing", also darum, die passende und qualifizierte Besatzung für die beiden "Sea-Watch"-Schiffe zu bekommen. Die Grundüberzeugung, dass sich bei Sea Watch Menschen treffen, die die Liebe zum Meer und zu Menschen verbindet, sollte man als kleinsten gemeinsamen Nenner teilen können, wenn man an Bord will. Darüber hinaus seien aufgrund des politischen Drucks, dem sich der Verein ausgesetzt sieht, die Anforderungen an Crew und Schiffe stetig höher geworden. Viele Positionen an Bord sind inzwischen mit nautischen Profis besetzt. Dazu kommen medizinisches Personal, das auf der "Sea-Watch 4" von den "medicins sans frontieres" gestellt wird, sowie Journalisten, die von den Geschehnissen auf See berichten. Weiterhin besteht die Besatzung aus vielen Ehrenamtlichen an Bord - zum Beispiel jenen, die sich in der "guest care", engagieren, also um die Gäste kümmern.
"Speerspitze einer Bewegung"
"Die Crew auf dem Schiff ist allerdings bloß die Speerspitze einer Bewegung", sagt Jakob. Dahinter stünden unzählige Menschen, die solidarisch für ein Europa ohne Grenzen einträten, aber nur wenige von ihnen seien dann eben tatsächlich auf dem Schiff. Die politische Überzeugung, dass das, was wir hier tun, notwendig und richtig sei, trage einen sicher über manche Unannehmlichkeiten hinweg, sagt mir Jakob. Zum Beispiel die stark eingeschränkte Privatsphäre an Bord wie auch die Gefahr, der sich die Crew aussetzt. Denn die "Sea-Watch 4" kreuze vor der libyschen Küste, einem Bürgerkriegsland, in dem viele politische Verhältnisse nicht einsehbar seien.
Jakob fühlt sich an diesem Sonntag gut. Wenn er zurückblickt, liegen zwei Wochen harte Werft- und Vorbereitungsarbeiten hinter ihm. Davor noch eine Woche Quarantäne. Nun ist er froh, dass wir unterwegs sind in ein Gebiet, in dem derzeit kein einziges weiteres ziviles Seenotrettungsschiff segelt. Er ist dankbar und fühlt sich beschenkt, an Bord der "Sea-Watch 4" zu sein.
Ich frage ihn, inwieweit sein Engagement für Sea Watch mit seiner christlichen Überzeugung zu tun hat. Er stellt klar, dass es ein schöner Zusatzpunkt sei, dass die "Sea-Watch 4" über eine Art kirchliches Start-up finanziert sei, sieht das aber keinesfalls als Motivationsgrund, an Bord zu sein. Allerdings begrüßt er diese neue Entwicklung aus kirchlichen Kreisen, und es passe zu seiner christlichen Überzeugung, dass "alle Menschen ein Recht auf ein gutes und befreites Leben haben". Insbesondere diejenigen, die auf der Flucht seien und an den Rändern der Gesellschaft stünden. Als Europäer sieht er sich in einer Tradition von Mitschuldigen, die vor allem durch Kolonialisierung an der Ausbeutung etwa Afrikas beteiligt waren oder sind.
"Es geht erstmal darum, Menschen zu helfen - im Sinne einer Caritas", sagt Jakob. Jemanden aus dem Wasser zu ziehen und ihn zu versorgen sei ein zutiefst humanitärer Akt. Dahinter stünden aber die politischen Verhältnisse, die überhaupt dazu führten, dass sich Menschen in Schlauchboote setzten und die gefährlichste Route über das Mittelmeer nehmen. Koste es, was es wolle.
Nach Jakobs Meinung müssen sich christliche Gemeinden noch viel stärker politisch positionieren. Für ihn sind Aussagen wie "Die Kirche muss neutral sein" Humbug, sogar eine Chimäre. "Es gibt keinen unpolitischen Raum", sagt Jakob. Es brauche auch in der Zivilgesellschaft viele, die sich für die Arbeit von Sea Watch stark machen und helfen, so dass diese nicht mehr kriminalisiert werde. Wie der Verein Seebrücke beispielsweise, in dem sich Gemeinden für so genannte sichere Häfen erklären und sagen: "Wir schicken einen Bus nach Sizilien und nehmen einige der Geretteten bei uns auf." Das sei ein starkes Zeichen der Zivilgesellschaft, sich gegen den Kurs der Bundesregierung zu wehren, meint Jakob.
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Vor kurzem ist der Verein Sea Watch fünf Jahre alt geworden. "Kein Grund zum Feiern" lautete der Geburtstags-Slogan. Denn eigentlich sollte es NGO`s (Nicht-Regierungsorganisationen) wie Sea Watch nicht geben; "was wir machen, ist aus der Not geboren", sagt mir Jakob. Es sei eigentlich Aufgabe der europäischen Staaten, die Seenotrettung zu organisieren. Er setzt sich dafür ein, dass Europa ein menschliches Asyl- und Seenotrettungsprogramm bekommt.
Vor allem jetzt im Sommer werden sich wieder viele Menschen auf den Weg machen, was aktuelle Nachrichten via Alarmphone bereits belegen. Das Mittelmeer gilt laut Statistik als Todesfalle Nummer 1 für Geflüchtete.
Jakob hofft, dass die "Sea-Watch 4" durch die Beteiligung des Bündnisses United4rescue noch mehr Schlagkraft für eine sichere und gelungene Mission habe. Er sagt das auch im Hinblick auf eine Anlandung in den nächstgelegenen sicheren Hafen.
Persönlich sei er schon zu lange aktiv, als dass er nicht wüsste, dass er allein oder mittels der Mission ein politisches Ruder komplett herumreißen könne. Aber jede und jeder einzelne von uns habe genug Privilegien, die er teilen könne. Die Präsenz, die Zeit und die Risiken, die die Crew der "Sea-Watch 4" auf der Mittelmeermission einbringt, sieht er als ein Teilen von Privilegien. "Das ist ein Trostpflaster mit den leidvollen Geschichten, der Geretteten einigermaßen klarzukommen." Die Wut darüber, dass die Verhältnisse nicht Folge etwa einer Naturkatastrophe sind, sondern aufgrund politischer Verhältnisse existieren, bleibt. Noch immer würden mit europäischen Geldern Migranten mit so genannten "push backs" nach Libyen zurückgetrieben. Dort erwarten sie laut internationalen Berichten Gewalt und Folter. "Die libysche Küstenwache erfüllt damit eine Türsteherfunktion Europas", erklärt mir Jakob.
Für Jakob sollte jeder Mensch das Recht haben, zu gehen und zu bleiben. "Was wir Europäer uns herausnehmen, muss auch für beispielsweise Sudanesen möglich sein." Er wisse, dass er mit dieser Forderung in eine zivilgesellschaftliche Wunde sticht: "Ich vermute, dass das für viele Menschen aus der bürgerlichen Mitte Europas ein No-Go ist."