Neuer Purismus im Journalismus?
Reportagen voller filmischer Szenen, bildstarker Vergleiche und geplanter Plots haben ihren Nimbus verspielt. Daraus müssten Konsequenzen gezogen werden ...

Das journalistische Genre Reportage ist intakt, sagte einer der Gewinner des Grimme Online Awards vorige Woche. Man müsse einfach "losfahren und nicht schon bestimmte Protagonisten im Kopf haben". Worauf Moritz Gathmann, ein Macher des ausgezeichneten Russlandreise-Reportage-Projekts "Buterbrod und Spiele", anspielte: Die ehemalige Königsdisziplin "Reportage" ist auf den Hund gekommen. Das ist seit der Aufdeckung des Relotius-Skandals ein Dauerthema der Medienkritik.

Gerade ging eine zunächst in der "Weltwoche" erschienene Kolumne herum. Unter der Überschrift "Mach mir eine Szene" polemisiert Kurt W. Zimmermann da gegen szenische Einstiege, die lange als recht hohe Kunst galten. Zwar arbeitet er vor allem mit schweizerischen Beispielen, doch die "Nebelschwaden", auf die er sich besonders konzentriert, wirken natürlich im ganzen deutschen Sprachraum unnatürlich, und das Magazin, für das Relotius arbeitete, kommt auch vor:

"Lesen Sie zum Beispiel den szenischen Kitsch, den der 'Spiegel' soeben über die Klimaaktivistin Greta Thunberg publizierte: 'Eine der Demonstrantinnen scheint nicht so richtig dazuzugehören, sie ist kleiner als alle anderen. Wie sie da so steht, mittendrin und doch allein, erinnert es ein wenig an Leonardo da Vincis Gemälde Das Abendmahl. Es ist Greta Thunberg [. . .] erhaben und entrückt.'"

"Plots werden akribisch geplant"

Ob der "Spiegel" aus dem Relotius-Skandal wirklich so einfach "nochmal mit einem blauen Auge davongekommen" ist, wie der noch neue neue Chefredakteur Steffen Klusmann kürzlich meinte, wird sich zeigen. Jedenfalls ist der Abschlussbericht der "Aufklärungskommission", der vor einem Monat im Heft erschien (PDF; 17 Seiten), weit über diesen Fall hinaus lesenswert. Es geht um die Schwierigkeiten des freien Mitarbeiters Juan Moreno, die Fälschungen des damals renommierteren Kollegen aufzudecken (wofür Moreno inzwischen als "Aufrechter, der ... zur Ehrenrettung des Journalismus beigetragen hat", den "Leuchtturm"-Preis des Netzwerks Recherche bekam), und um die Methoden des wegen seiner vielen Journalistenpreise intern privilegierten "Gesellschaft-"Ressorts:

"Die Reportagen, die das Gesellschaftsressort mit einigen der besten Autoren der Republik Woche für Woche produziert, sind oft filmisch erzählte Geschichten; Plots werden akribisch geplant und Figuren gelegentlich wie bei einem Filmcasting gesucht. Die Geschichten leben von hoher Detailgenauigkeit. Dies ist im Fall der Entstehungsgeschichte von 'Jaegers Grenze'", einem der Relotius-Klassiker, "in einem E-Mail-Verkehr zwischen Matthias Geyer", damals Leiter des Ressorts, "Moreno und Relotius gut nachzuvollziehen. Dort heißt es unter anderem: 'Wir suchen nach einer Frau mit Kind. Sie kommt idealerweise aus einem absolut verschissenen Land (...) Sie setzt ihre Hoffnung auf ein neues, freies gutes Leben in USA (...) Es muss eine sein, die mithilfe eines Kojoten über die Grenze will'...."

Solche Reportagen waren – und sind – das Gegenteil vom Losfahren und Gucken, was und wer einem begegnet. Ein Einzelfall war das nicht. So gab es Anfang 2019 die Affäre um die Reihe "Menschen hautnah", aus der der WDR Folgen zurückzog, weil sie "in unzulässiger Weise zugespitzt" wurden. Beziehungsweise: weil die "Protagonisten" auch für solche dokumentarischen Formen ähnlich gecastet wurden wie Schauspieler für Spielfilme.

"Gestaltungsraum des Reporters"

Aus der jeweiligen Produktionslogik sind solche Routinen verständlich. Wer wöchentlich ein Heft (oder zukunftsfähiger: Online-Abos) verkaufen will oder unter Dutzenden von Sendern eingeschaltet werden und bleiben will, kann sich kaum auf die Gefahr einlassen, auf einer offenen Suche bloß mittelmäßig aufregenden Menschen zu begegnen, die keine großen Gefühle zeigen. Zudem liegt die Zeit, in der der Journalistenberuf einen guten Ruf und Vertrauen genoss, länger zurück. Wer vor Kameras oder auch nur Mikrofonen nach irgendwas gefragt wird, ist gut beraten, nicht drauflos zu reden, sondern sich erst mal ein Urteil über die Vertrauenswürdigkeit der Reporter zu bilden. Was diese wiederum Zeit kosten würde, die sie unter Produktionsdruck oft nicht haben ...

Das grundsätzliche Problem besteht in den erodierenden Formen und Begriffen. In den Genres "Reportage" und "Doku-" haben sich (spiel-)filmische Mittel eingespielt, die sicher oft noch im Wettbewerb ums Publikum helfen, doch längst schon die Glaubwürdigkeit unterminieren. Vermutlich ist legitim, wenn Fernseh-Dokus mit "nachgestellten Szenen" arbeiten, in denen Anzugträger einander in Büro-Ambiente Aktenkoffer übergeben. Das wirkt, zumal mit entsprechender Musik aufgeladen, spannender als bloß von außen gefilmte Bürotürme. Vielleicht gehört es noch zum legitimen "Gestaltungsraum des Reporters", in gedruckten Reportagen manchmal "mehrere Gesprächspartner ... zu einer Person zusammenfassen", wie der Journalistikprofessor Michael Haller im Februar im "taz"-Interview überlegte. Immerhin spart das Platz im Text und Zeit beim Lesen. Doch all das kostet Überzeugungskraft weit über den einzelnen Film oder Text hinaus. "Reportage" und "Doku" sind inzwischen Mischformen, die wenn sie überzeugen, dann das Publikum, das ohne ähnliche Meinungen hegt wie die jeweilige "Reportage"/ "Doku".

"Das System Relotius" als Spielfilm

Einen Ausweg umriss Wolfgang Storz, einst Chefredakteur der "Frankfurter Rundschau" (als die noch eine Zeitung mit überregionalem Anspruch war), gerade in einer Polemik gegen den "Spiegel", die in der Monatszeitung "Oxi" unter der Überschrift "Wie aus dem angeblichen Sturmgeschütz der Demokratie das wöchentliche Feuerwerk der Unterhaltungsgesellschaft wurde" erschien. In der "Kontext Wochenzeitung" hieß sie anders, ist aber frei online lesbar. Storz argumentiert:

"...  es sind die zu verla?sslichen Nachrichten und zu hintergru?ndigen Analysen verarbeiteten Informationen u?ber Konzerne, Politiker, Verba?nde, u?ber deren Interessen und Absichten, welche die Bu?rgerInnen u?berhaupt erst befa?higen, an fundierten Debatten und Entscheidungen ... teilzunehmen. Diese demokratische Republik braucht mehr leistungsfa?higen Journalismus, der fa?hig ist, zu brisanten wichtigen Themen versta?ndliche, zuverla?ssige Nachrichten zu liefern und Analysen, die Kontexte und Orientierung liefern."

Eine Aufwertung solcher lange unterschätzter, schlichter Formen gegenüber lange überschätzten wie den packenden, emotionalen, filmischen Reportagen – neuer Purismus und vielleicht auch neu Genrebegriffe zur Unterscheidung von den verbrannten alten, sind tatsächlich eine gute Idee.

Zu den Produktionsbedingungen gedruckter Medien gehört übrigens auch, dass Platz im Text zu sparen häufig nicht hilft. Jede Seite hat eine Rückseite und gehört oft zu einer Doppelseite. Papier muss gefüllt werden und wird durch Anzeigen seltener gefüllt als früher. Vermutlich auch daher wirken Reportagen, die für gedruckte Medien entstanden, oft etwas länglich. Vielleicht so  kam der "Spiegel" von Greta Thunberg auf da Vinci.

Diese Kolumne, die ja nicht gedruckt erscheint, ist auch wieder lang genug. Deswegen nur noch eins: Der verdienstvolle "Spiegel"-Autor Juan Moreno schreibt nicht nur ein Buch, das im September erscheinen soll und schon wegen des Untertitels "Das System Relotius und der deutsche Journalismus" gespannt erwartet wird. Er konnte auch bereits die Filmrechte verkaufen: Die Bertelsmann-Firma "Ufa Fiction" will einen Spielfilm draus machen.