Die gute Nachricht zur Europawahl: Wirklich alle Wahlberechtigten dürften davon inzwischen gehört haben. Schließlich machen viele Appelle und Aktionen, auch der Evangelischen Kirche, auf die Bedeutung der Wahl aufmerksam. Das weiterhin wichtigste Medium Fernsehen tut ebenfalls viel dafür. Die Sender der RTL-Gruppe engagieren sich mit der Kampagne "Weil eine Stimme Unglaubliches vollbringen kann. Auch Deine!". "Deine Stimme kann mehr als meckern", heißt's im Pro Sieben-Spot mit einem ulkig verkleideten Edmund Stoiber (und einem Dackel).
Kaum unterschätzt werden kann die Bedeutung der Parteien-Werbespots, die bei ARD und ZDF genau dort laufen, zwischen den Sendungen, wo sonst routinierte Eigenwerbung auf die übernächsten Krimis gespannt machen soll. Die nach leicht kryptischem Muster (mehr im "Tagesspiegel") programmierten Filmchen häufig sehr kleiner Parteien sind oft alles andere als routiniert – und damit ein Hingucker im Programmfluss. Spots der NPD gehen über den Rand des Grundgesetzes hinaus oder doch nur daran, was unterschiedliche Gerichte unterschiedlich sehen (und immerhin die Nach- und Vorteile des Föderalismus spiegelt, um die es auch in Europa geht).
Im Programm selbst ziehen ARD und ZDF auch alle Register, wie meist ziemlich identisch. Diese Woche zeigte erst die ARD ihr "Gipfeltreffen Europa" mit den Chefs der sieben größten deutschen Parteien. "Was Europa den Parteichefs bedeutet", hieß die SPON-Kritik treffend. Darum ging es eher als um die Frage, was die Parteien für Europa bedeuten. "Wie geht's, Europa?" hieß dann die Sendung mit sechs Spitzenkandidaten derselben Parteien im ZDF. Die EU-weiten Spitzenkandidaten der beiden größten Fraktionen, darunter auch bereits Manfred Weber, wurden zuvor schon in die "Wahlarena" bzw. zum "#tvDuell" gebeten – so wie 2014 Martin Schulz und Jean-Claude Juncker. Damals wurde das Spitzenkandidaten-Modell eingeführt und hatte funktioniert: Schulz, dessen so steiler wie vorübergehender Aufstieg damit begann, könnte ein Lied davon singen.
2019 ist nicht mehr nur unklar, ob ein Spitzenkandidaten tatsächlich Kommissions-Präsident wird, sondern sogar, ob die beiden relativ größten Fraktionen im neuen Parlament wenigstens gemeinsam eine Mehrheit erreichen. Schon das ließe sich an diesen "Duellen" kritisieren. Doch Medien-Wahlkampf besteht eben besonders in Personalisierung und Vereinfachung, Wahlkämpfer müssen vor jeder Kamera wiedererkennbar bleiben. Und wenn ein Social-Media-Team sie bittet, auch in seine noch einen Satz oder ein Wort zu sagen, und dann "Frieden, Freiheit, Klimaschutz" (wie in diesem ARD-Viertelminüter) rauskommt, ist auch das ja irgendwie aussagekräftig.
Neuer, schneller und dichter Tonfall
Allerdings: Völlig andere Tonfälle als die, die in den sterilen Wahlkampfstudios, mal mit ausgewähltem Studiopublikum, das ausgewählte Fragen stellt, mal ohne, gepflegt werden, gibt es längst auch. Aktuell erregt das Video "Die Zerstörung der CDU" des Youtubers Rezo Aufsehen (was "in der YouTube-Subkultur" bedeuten soll, "dass jemand argumentativ ziemlich plattgemacht" wird oder werden soll). Bis zum Donnerstagvormittag kam es auf sagenhafte 4,8 Millionen Klicks, und die – differenzierten – Diskussionen, ob es sich beim 55-minütigen "Rant" (Wutrede) um "eines der besten Politik-Videos, die die deutsche Youtube-Welt bisher hervorgebracht hat" (netzpolitik.org via Twitter), handelt oder um Polemik, die ausblendet, was ihr nicht in den Kram passt, nahmen erstaunliche Dimensionen an. Vermutlich ist es, wie vieles im Wahlkampf, eine Mischform.
Natürlich lässt sich nicht von Sendern erwarten, diesen neuen, schnellen und dichten Netz-Tonfall gleich ins Fernsehen zu holen (wobei: Für die nächsten Wahlen könnte das ein Ziel sein). Doch: Den Trend "#niewiederCDU", auf den Rezo unter anderem aufsetzt, gibt es schon länger. Er entstand während der Diskussionen über die EU-Urheberrechtsreform. In Europawahl-Runden ausführlich auch über Netz- oder Digitalpolitik zu sprechen, wäre sinnvoll gewesen. Auf diesem Feld gibt es viele konkrete Beispiele, was die EU und das Parlament, das nun neu gewählt wird, tun können oder zu tun versuchen – von der DSGVO bis zum Umgang mit Konzernen wie Google und Facebook.
Und noch etwas verbiegt in die ARD/ZDF-Runden die EU-Realität: Dort wird ausschließlich deutsch gesprochen. Würden all die Appelle gegen Nationalismus nicht mehr überzeugen, wenn es in den Diskussionsrunden ein bisschen international zuginge?
Europa immer durch deutsche Filter
Es gab sogar eine von der öffentlich-rechtlichen Europäischen Rundfunkunion organisierte Debatte. Auch sie lässt sich online ansehen, bei phoenix.de (via Youtube). Zuschauen lohnt, obwohl die Simultanübersetzung erst nach sieben Minuten einsetzt. Wer etwas Englisch spricht, versteht ganz gut, was Moderatoren und Politiker sagen, und wer etwas Französisch, auch den Linken Nico Cué. Übrigens zählt mit der Grünen Ska Keller neben Weber eine weitere Deutsche zu den sechs Spitzenkandidaten.
Klar, auch an dieser Runde ließ sich einiges kritisieren (wie es in der Phoenix-Nachbereitung geschah), vor allem die Abwesenheit des "Elefanten im Raum", also der rechtspopulistischen oder nationalistischen Parteien, die noch stärker werden dürften, sich aber schon im Vorfeld auf keinen gemeinsamen Spitzenkandidaten einigen konnten. Dennoch entstand ein Bild davon, wie EU-Europa eben ist: vielstimmig und vielsprachig, sicher umständlich, aber auch lebhaft.
Bloß zugeschaut hat in Deutschland kaum jemand. Bei Phoenix, dem kleinem "Ereignis- und Dokumentationskanal", dem " nur Auskenner*innen und Journalist*innen zuschauen" ("taz"), waren es 0,71 Millionen Zuschauer. Dass auch Euronews übertrug, der in Deutschland leider besonders unwichtige europäische Nachrichtenkanal mit komplizierter Geschichte, dürfte den 0,7 %-Marktanteil hierzulande kaum erhöht haben. Warum zeigen die ARD oder das ZDF, die Phoenix gemeinsam betreiben, solche Sendungen nicht? Weil es für Europa reicht (wie der Haupt-Slogan der satirischen Partei Die Partei lautet), die Muster von vor fünf Jahren aus dem Schrank zu holen?
ARD und ZDF haben ihrem Publikum (oder sich selbst) eben angewöhnt, Europa immer durch deutsche Filter zu zeigen. Sie strahlen keine kroatischen, portugiesischen oder französischen Krimis aus, sondern von Deutschen auf deutsch gefilmte "Kroatien-", "Lissabon-" und Frankreich-Krimis. Dabei ist dem Publikum anderes zuzutrauen. Die Runde heißt bei phoenix.de "Eurovisions-Debatte" – und wenige Tage später machte die ARD mit genau diesem Label wieder gute Einschaltquoten-Erfahrungen. Der "Eurovision Song Contest" bescherte ihr "herausragende" Marktanteile (dwdl.de) besonders bei vergleichsweise jungem Publikum. Und dass dieses aus nationalem Blickwinkel mitgefiebert hätten, ob das deutsche Lied dieses Jahr einen Blumentopf gewönne, wird niemand behaupten (und dass es auf gute Musik gespannt gewesen sei, auch höchstens einige Aficionados unter heftigem Augenzwinkern ...).
Europa und die EU funktionieren im Großen und Ganzen mit mehr Vor- als Nachteilen. Leider spiegeln die deutschen Öffentlich-Rechtlichen das viel zu wenig wider.