Älteren Mitbürgern, die sich in ihrer Jugend fürs noch junge Internet interessierten, könnte die Netzeitung noch ein Begriff sein. So hieß ein frühes deutsches Internetmedium. Am Redaktionssitz am Berliner Bahnhof Friedrichstraße stand im Fenster zu den Gleisen das Schild mit dem Werbespruch "Aus Prinzip schneller" – auch dann noch, als es die Netzeitung gar nicht mehr gab. Die "erste deutsche Zeitung, die nur im Internet erschien", musste ausgerechnet in der Zeit immer noch kleiner und billiger werden, in denen das Internet sich allmählich durchsetzte und alle Konkurrenten nach langem Zögern eigene Internetredaktionen aufbauten. Hätte damals ein strategisch denkender Investor die im Vergleich nicht sehr teure NZ übernommen, hätte er heute eine der erfahrensten Internetredaktionen im Haus und und könnte womöglich mit Spiegel Online konkurrieren, das von seinem Startvorteil ja weiterhin zehrt.
Jedenfalls könnte es aufschlussreich sein, diese etwas tragische Medien-Geschichte nachzuzeichnen. Ich bin allerdings befangen, da ich (kurz) beteiligt war: Gut ein Vierteljahr arbeitete ich als Netzeitungs-Redakteur, dann kündigte ich und schrieb bloß die Medienkolumne Altpapier weiter. Sie erschien erst noch in der Netzeitung, musste dann eine neue Heimat finden und ist inzwischen, nach vielen Jahren hier auf evangelisch.de, beim MDR Thüringen zuhause. Ende 2020 wird das Altpapier voraussichtlich zwanzig Jahre alt werden – wie die Netzeitung dann würde, wenn es sie noch gäbe.
Wer netzeitung.de in die Adresszeile eingibt, landet inzwischen bei ksta.de – und könnte dort auf die nächste tragische wie aufschlussreiche Medien-Geschichte stoßen. Es handelt es sich um den Internetauftritt des "Kölner Stadt-Anzeigers". Das ist die wichtigste Zeitung der Mediengruppe DuMont, die ihre Geschichte bis ins Jahr 1620 zurückführt. Vor zehn Jahren hatte der Kölner Verlag wohl für eine dreistellige Millionen-Summe die "Berliner Zeitung" gekauft. Die NZ, die damals dazu gehörte, sollte als "automatisiertes Nachrichtenportal" weiterlaufen, doch für diese immerhin innovativ klingende Idee reichte die (noch immer nicht sehr große) Onlinekompetenz des Kölner Verlags nicht. Nun machte die Medienjournalistin Ulrike Simon bei horizont.net bekannt, dass DuMont "sich von sämtlichen Zeitungen trennen" will.
"Historischer Irrtum", "existenzgefährdend"
"Ein Alarmsignal für alle Verlage", lautet eine der Reaktionen, zumal es auch um traditionsreiche Blätter wie die Hamburger "Mopo", die "Mitteldeutsche Zeitung" und die "Express"-Boulevardzeitungen geht. Hintergrund ist die Zeitungskrise, die nur noch selten ein größeres Thema ist, aber in den Medienressorts gerade häufig behandelt wird. "Für die Lokal- und Regionalpresse wird die Lage in vielen Regionen tatsächlich existenzgefährdend", sagte der Medienwissenschaftler Michael Haller. "Das Jahr 2019 wird bitter", kommentiert SPON. "Ausschließlich mit Online-Werbung bis in den letzten Winkel der Republik Qualitätsjournalismus finanzieren zu wollen, war ein historischer Irrtum", erkannte das "Handelsblatt". "Das wahrscheinliche Ende vieler Zeitungen der DuMont-Gruppe ist weder die erste Hiobsbotschaft für die Branche noch wird sie die letzte sein", schreibt der Weimarer Medien-Professor Christopher Buschow bei netzpolitik.org. Haller erklärt die multiple Krise gedruckter Zeitungen so:
"Erstens schrumpft der Anzeigenteil, der früher mehr als zwei Drittel der Einnahmen brachte. Zweitens bleiben die jüngeren Erwachsenen weg ... Und drittens wird die Zustellung der Abo-Zeitung immer teurer."
Wie Rädchen greifen inzwischen Faktoren ineinander und verschärfen die Krise. Eins davon:
"Die sinkenden Auflagen der Zeitungen haben zu Betriebsstilllegungen bei den Papierherstellern geführt, die jetzt wieder die Durchsetzung von Knappheitspreisen ermöglichen".
So begründet "taz"-Geschäftsführer Andreas Bull eine bevorstehende Preiserhöhung. Zwar gilt, was seit Anfang des Internets postuliert wird: Wer aufs Drucken, Ausliefern und Austragen von Zeitungen verzichtet und Texte einfach online zur Verfügung stellt, spart viele Kosten. Die "taz" baut erfolgreich darauf. In der Praxis des Internets, das zeigt sich ähnlich lange, sparen sich die Menschen vor allem das Bezahlen für das, was online im Überfluss vorhanden zu sein scheint und auch ist – etwa Texte in schriftlicher Form.
Eindruck von Überfluss
Wer auf den "Horizont"-Link klickte, hat festgestellt, dass dort zunächst nicht viel zu lesen ist, da zum Artikel nur Zugang erhält, wer sich "kostenfrei registrieren" lässt. Nicht mal dazu sind viele Nutzer bereit, wie ebenfalls Simon beklagt: "Journalisten werden zu Totengräbern des Journalismus", schrieb sie bei "Spiegel+", weil viele Kollegen sie baten, ihnen den Text kostenlos zu schicken. Falls Sie auf diesen Link klicken, stellen Sie fest, dass dort zunächst nicht viel zu lesen ist, da "Spiegel+" tatsächlich etwas kostet.
Das spiegelt die komplexe Gemengelage des gewaltigen Überflusses an Medieninhalten aller Art, die sehr häufig journalistische Inhalte sind. Es gibt immer noch sehr viele Medien, die viele Inhalte unbezahlt anbieten; auch Spiegel Online selbst tut das ja. Wer allein zugangsbeschränkte Inhalte anbietet, kommt bei der Reichweite nicht weit. Die starke Konkurrenz der Presseverlage gerade in Deutschland, wo gedruckte und täglich erscheinende Zeitungen erfunden wurden, bedeutet weiter scharfen Wettbewerb, in dem keine Nachricht lange exklusiv bleibt. Bloß das Geschäft belebt er nicht mehr.
Der öffentlich-rechtliche Rundfunk, der in Deutschland ebenfalls überdurchschnittlich stark ist, stellt online keine unmittelbare Konkurrenz für Zeitungen dar. Und doch trägt seine Onlinepräsenz mit dazu bei, dass niemand Abos wirklich braucht. Übermächtige direkte Konkurrenz um Online-Werbeeinnahmen bilden Google, Facebook und Co. Zugleich bilden jede Menge weitere Nachrichtenanbieter und die vielen Inhalte, die Nutzer in den Netzwerken posten (oft, indem sie Artikel aus allen möglichen Ursprungs-Quellen weiterempfehlen), unendliche Nachrichtenströme. Prall gefüllte Timelines oder, wie es Haller formuliert; der "sequenzielle Newsstream der Newsanbieter" konkurriert um dieselbe Aufmerksamkeit und verschärft den Eindruck von Überfluss.
"Zombiezeitungen" verschwinden auch nicht
Zumal wenige Zeitungen völlig verschwinden. Die Funke-Mediengruppe, auf die Haller Hoffnungen setzt ("hat den Glauben an die Zeitung noch nicht aufgegeben"), entwickelte das Rezept der (von Kritikern so genannten) "Zombiezeitungen". Vereinfacht gesagt, werden Zeitungen ganz oder teilweise gekauft, Redaktionen verkleinert oder geschlossen und die Blätter wie ihre Internetauftritte mit sowieso vorhandenen, anderen Inhalten gefüllt. Abonnenten werden weiter unter demselben Titel-Logo beliefert, wer den Titeln auf Twitter oder Facebook folgt, ebenfalls. Nur wer genau hinschaut, könnte erkennen, dass die Inhalte häufig dieselben sind wie in vielen anderen Zeitungen (oder schlechter geworden). Bloß: Genau solche genau hinschauenden Abonnenten gibt es ja immer weniger.
Und Kostensenken ist notwendig. "Weniger Hauptstadtjournalismus (muss) kein Nachteil sein, wenn im Gegenzug überregionaler aus der sogenannten Provinz berichtet wird", stand hier im Juni über die damals neue Partnerschaft DuMonts mit der Madsack-Gruppe, mit der der Kölner Verlag schon viele Ambitionen "strategisch" fahren ließ. Auch der "Stadt-Anzeiger", der in seinem großen, lokalpatriotischen Verbreitungsgebiet ziemlich konkurrenzlos ist, wird sicher nicht verschwinden.
Längst gibt es auch, was die Netzeitung einst sein wollte: reine Internetmedien ohne Verlags- oder Sender-Abhängigkeit, sei es von globalen Anbietern wie Buzzfeed, seien es, nur zum Beispiel, watson.de nach schweizerischem Vorbild und t-online.de, die beide der Werbefirma Ströer gehören (die im Wettbewerb um Werbeeinahmen gute Karten haben könnte). In allerlei Nischen gibt es erfolgreiche Nutzer-, also Spenden-finanzierte Blogs. Bei netzpolitik.org plädiert Buschow für bessere "Anschubfinanzierung für journalistische Gründungen". Das ist absolut sinnvoll, bloß: Viele Beispiele für nachhaltige Finanzierung von Journalismus gibt es in der weiterhin gewaltigen Online-Vielfalt nicht.
Sicher gibt es Ideen, wie die Lage sich lindern ließe. Auch darüber wird jetzt diskutiert (und ich verzichte darauf, einige aufzuzählen; diese Kolumne ist ja wieder lang genug). Doch die schiere Masse an mittelbarer Konkurrenz, zu der alle beitragen, macht es journalistischen Onlinemedien ohnehin und besonders in Deutschland enorm schwer. Ändern dürfte sich das erst nach einer Menge weiterer etwas tragischer Geschichten.