In Zeitschriften zu blättern ist etwas Schönes – dieser Satz klingt vielleicht banal, doch zu den wesentlichen Formen der Mediennutzung zählt Blättern in Zeitschriften eben nicht mehr. In der aktuellen Ausgabe der "Wirtschaftswoche" steht der Artikel "Trauriger Jäger" (wer ihn digital lesen will, kann das für 2,97 Euro bei genios.de tun) über den Hamburger Verleger Thomas Ganske. Er ist im Sound der Wirtschaftsmagazine verlasst, die erst mal einleitend Wohnambiente schildern ("hohe holzvertäfelte Decken, gut gefüllte Bücherwände ..."), um dann mit Originalzitaten aus einem der seltenen Interviews ("... räumt ein, dass er mit dem Umsatz 'überhaupt nicht zufrieden' sei") zum Thema zu kommen, nicht ohne insiderische Boshaftigkeiten einfließen zu lassen ("Ihm ist es nicht gelungen , den Verlag ins digitale Zeitalter zu führen").
Wehmut fließt aber auch ein:
"Das meiste Geld versenkte Ganske im Jahreszeiten Verlag. 1986 brachte er das Zeitgeistmagazin 'Tempo' auf den Markt, das mit seiner respektlosen Sprache und Titeln wie 'Potenzrakete Kokain' provozierte. 1993 gründete er die Zeitschrift 'Die Woche', als Gegenentwurf zur 'Zeit'. Bei seinen Journalisten war er beliebt, doch beide Titel, in der Branche hochgelobt, verschlangen Millionen ..."
"Tempo" ließe sich besser charakterisieren als mit der genannten Schlagzeile, und die "Woche" war keine Zeitschrift, sondern eine Wochenzeitung, aber ein in den 1990ern ebenfalls viel diskutiertes, einflussreiches Printmedium. Schade, dass es beide schon lange nicht mehr gibt. Anlass des "Wiwo"-Artikels ist ein wenig beachteter Zeitschriften-Verkauf von Ganskes Jahreszeiten-Verlag, über den meedia.de kürzlich unter der Überschrift "Der unaufhaltsame Niedergang eines Zeitschriften-Imperiums" berichtete. Nun
"... veräußert der Jalag seine Frauenmagazine 'Für Sie', 'Petra' und 'Vital'. Gleichzeitig wechseln auch die jüngsten Neugründungen aus dem Frauensegment den Besitzer – darunter 'Feel Good', 'Iss Dich Gesund' und 'Dr. Wimmer'. Erwerber ist der Konkurrent Klambt. Es ist eine einschneidende Entscheidung. Einst enorm profitable Klassiker müssen offenbar abgestoßen werden, um die Premium-Marken, also 'Architektur & Wohnen', 'Feinschmecker', 'Merian' & Co. langfristig zu retten",
Die "Petra" hatte "in den besten Zeiten Ende der 1970er eine verkaufte Auflage von über 600.000". Wer durch die aktuelle Ausgabe blättert, wird im Editorial "Jetzt wird es spannend!" mit der Zeile "Krimis mit Nervenkitzel-Garantie verkürzen uns lange Herbstabende" begrüßt – als ob Langeweile zu den größeren Problemen gegenwärtiger Mediennutzerinnen zählen würde. Der letzte Artikel im Inhaltsverzeichnis ist eine "News" im Ressort "Leben": "Zum Dahinschmelzen: Wein & Schoki". Wer mehr wissen möchte und auf S. 132 blättert, findet auf genau zehn Zeilen einen Hinweis auf ein "Seminar für experimentierfreudige Gourmets", das sich für "ca. 90 €" bei jochen-schweizer.de buchen ließe.
"Die unvermeidliche Uhrenanzeige"
Gewiss ist es ungerecht, einzelne Inhalte aus dem Zusammenhang zu reißen, der eher im Durchblättern in angenehmer Atmosphäre, besteht. In konzentriertem Durchlesen besteht er aber kaum; relevant ist was anderes. Vermutlich zeigt sich bei den Inhalten, dass der Jahreszeiten-Verlag 2010 noch einmal Pionier war und damals, früher und radikaler als andere Verlage, "alle schreibenden Redakteure" entlassen hat.
Den "Wiwo"-Artikel zu lesen, ist auch nicht ganz einfach. Er ist zwar nur zwei dicht bedruckte Seiten lang, doch genau in der Heftmitte, weshalb das zugeheftete Sonderheft "Dossier Arbeitswelt" zwischendrin überblättert werden muss; das "Heft über die Zukunft der Arbeit" dient sichtlich vor allem dazu, Anzeigenumfeld für Büromöbel-Hersteller zu schaffen. Alle Zeitschriften haben es nicht leicht, weil sowohl Auflagen als auch Anzeigenaufkommen sinken.
Daher gründen alle immer neue Zeitschriften (was im März schon Thema dieser Medienkolumne war). Ganske brachte gerade "Merian Scout" heraus und plant weitere ("... im nächsten Jahr sollen ein Food- und ein Männermagazin folgen. 'Alles, was wir machen, muss immer mit Lust und Genuss verbunden sein'" zitiert ihn die "Wiwo"). Und die "Wiwo" selbst [Offenlegung: erscheint bei der Handelsblatt GmbH, für deren Internetauftritt ich gelegentlich schreibe] hat gerade das neue Heft namens "Ada" veröffentlicht, durch das Steffen Grimberg etwas hämisch für die "taz" blätterte: "'Join Ada! Die Gemeinschaft für Zukunft und Zuversicht' heißt es auf der vorletzten Seite. Dann kommt die in deutschen Zeitschriften unvermeidliche Uhrenanzeige".
Am heutigen Donnerstag bringt Gruner+Jahr (G+J) "Guido", "das neue Magazin von und mit Guido Maria Kretschmer", heraus. "Thematische Schwerpunkte sind Mode, Mutmacher-Geschichten und Gastlichkeit mit besonderem Fokus auf Food und Living"; die Ambitionen sind mit einer Startauflage von 250.000 Exemplaren und mit zehn Ausgaben im Jahr vergleichsweise groß. Überhaupt hat der nach eigenen Angaben "größte Premium-Magazinverlag Europas" jede Menge Pläne. So gibt es seit September "B-Eat" ("Leitmedium und Navigationshilfe für Gastro-Fans und Restaurant-Besucher, für Ernährungsinteressierte und Food-Freaks, für Wein-, Champagner-, Bier-Enthusiasten und Spirituosen-Liebhaber"). Das ist eine der Genießer-Zeitschriften, die den verbliebenen Jalag-Titeln zu schaffen machen.
Wenn's ambitioniert ist: "Achtsamkeit"
Künftige G+J-Pläne kreisen um Influencer im Trendwort-, also Internet-Sinn. Einerseits soll ein Magazin mit Holly Becker erscheinen, einer "der ersten Interior-Influencerinnen in Deutschland" (meedia.de). Andererseits kündigte die Stuttgarter G+J-Tochter "'Soul Sister', das neue Magazin für aktive Achtsamkeit von 'Women's Health'", an. Um "vier Themenfelder" namens "Free Your Mind", "Feel Your Body", "Find Your Soul" und "Follow Your Heart" soll es gehen, für die bereits jeweils "eine bekannte und authentische Influencerin als Patin" gefunden worden sei.
Das mag wirtschaftlich funktionieren, sofern keine großen Redaktionen unterhalten werden müssen und die Influencer genug Einfluss ausüben, damit ihre Fans und Follower über längere Zeiträume regelmäßig Gedrucktes kaufen. Im Grunde sind Fernsehstars wie Kretschmer und Barbara "Barbara" Schöneberger ja ebenfalls Influencer, die ihren Zielgruppen in unterschiedlichen Medienformen, im Fernsehen, Internet oder auch Radio (barbaradio.de!) immer wieder begegnen.Eine interessante Einschätzung zitierte Klaus Raab dazu neulich im Altpapier: Die Deutschlandfunk-Sendung "Kompressor" befragte den 16-jährigen Influencer und Influencer-Berater Charles Bahr, der glaubt
"hinter dem Magazin 'Soul Sister' stecke die Absicht, 'das Selbstwertgefühl der Influencer selbst zu steigern – weil eben das Printmagazin heutzutage so besonders ist. Alles findet im digitalen Raum statt, und man bekommt eine ganz andere Akzeptanz, wenn man was in klassischer, in traditioneller Form auf Papier produziert.'"
Heißt: Gedrucktes ist für die Influencer, die ja auch im harten, oft sogar globalen Wettbewerb untereinander stehen, ein Statussymbol.
Für die Verlage allerdings mit ihren langen und stolzen Traditionen, in denen sie sich lange und lange mit Erfolg um Relevanz bemühten, hat es etwas Tragisches, wenn sie einander inzwischen mit Schlagworten wie "Lust" und "Genuss" (und wenn's ambitionierter klingen soll: "Achtsamkeit") überbieten müssen und dennoch in komplexen Prominenz-Vermarktungs- und Verwertungsketten untergeordnete Rollen hinter elektronischen, digitalen Medien spielen. Ihre Zeitschriften hängen vom Erfolg von Fernsehsendungen ab. Und im Internet hängen ohnehin alle, die Einnahmen erzielen wollen, von den globalen Konzernen ab, die über Empfehlungen und Algorithmen die Nutzungsströme und Werbeeinnahmen lenken. "Man kann nur so viel Geld einnehmen, wie Google das erlaubt", sagt auch Thomas Ganske.
Trotz aller nischigen Neuerscheinungen wird regelmäßig Platz frei in den Zeitschriftenregalen. Im Juli stellte G+J "Neon" ein, eine seiner relativ relevantesten Zeitschriften. In den vergangenen Wochen zogen Ankündigungen der Einstellung von Musikzeitschriften wie "Spex" und "Groove" (beide aus dem kleinen Piranha Media-Verlag) größere Nachrufe in Feuilletons und Medienmedien nach sich. Die "nmz – neue musikzeitung", die aus der klassischen Musik kommt, doch "die Zukunft des Musikjournalismus" an sich "düster" sieht, veröffentlichte in ihrer Meldung dazu dieses Foto, das in seiner Andreas-Gursky-Supermarkt-haftigkeit das Problem der Zeitschriften bestens ausdrückt: Immer mehr von ihnen erwecken den Eindruck von Überfluss, der zwangsläufig mit dem Eindruck sinkender Relevanz einzelner Titel einhergeht.