Geduldig auf Graten wandern
Was bei der Berliner Pressekonferenz mit der aus der Türkei ausgereisten Mesale Tolu gesagt wurde, war alles andere als spektakulär – und erst recht nicht neu. Gerade deshalb muss (und verdient) es, berichtet zu werden.

"Ihren ersten öffentlichen Auftritt seit ihrer Rückkehr nach Deutschland" (epd) hatte Mesale Tolu am Montag bei einer Pressekonferenz im Berliner Sitz der Reporter ohne Grenzen. Bekannt wurde die Ulmer Journalistin durch ihre mehr als sieben Monate in türkischer Untersuchungshaft – obwohl sie (anders als Deniz Yücel) ausschließlich die deutsche Staatsbürgerschaft und keine türkische besitzt. Und dadurch, dass ihr kleines Kind, der inzwischen dreijährige Serkan, mehrere Monate ebenfalls hinter Gittern saß. Was freilich nicht so selten ist: "Ungefähr 700 Kinder" leben gemeinsam mit ihren Müttern in türkischen Gefängnissen, schrieb Tolu selbst ("Die Kindereisenbahn im Gefängnis").

Was bei der PK gesagt wurde, war alles andere als spektakulär. Bekanntes wurde noch mal rekapituliert, und zwar angesichts kommender Staatsbesuche: Gerade weilt Bundesaußenminister Heiko Maas in der Türkei, Ende September wird unter vermutlich großem Hallo der türkische Staatschef Erdogan nach Deutschland kommen, im Oktober dann Wirtschaftsminister Altmeier in die Türkei reisen. Da wollten die Reporter ohne Grenzen auch noch ihr Thema auf die – prallvolle – Agenda zu setzen. Die deutschen Politiker sollten bitte "nicht hinter Macron zurückzufallen", sagte ROG-Geschäftsführer Christian Mihr. Der französische Präsident hatte beim Erdogan-Besuch den miesen Zustand der Medienfreiheit in der Türkei persönlich angesprochen. Immerhin sind die ROG tatsächlich in der "Bild"-Zeitung gelandet (und mit der Annahme, dass Maas so was beachtet, dürfte ihm niemand viel Unrecht tun).

Das Bekannte, daher ebenfalls Unspektakuläre neben der fortbestehenden krassen Repression gegen freie Medien ist zunehmende Verflechtung, also Konzentration von Medien:

"Die wirtschaftliche Dimension der Einflussnahme reicht viel tiefer und ermöglicht eine weitgehende politische Kontrolle über die Massenmedien in der Türkei. Man findet kaum einen türkischen Medienmogul, bei dessen Familie Präsident Erdogan nicht schon Gast oder gar Trauzeuge auf einer Hochzeit war",

heißt es in der deutschen Kurzfassung des ausführlicheren englischsprachigen "Media Ownership Monitor" zur Türkei. Dabei handelt es nicht um organische Entwicklungen der dynamischen Medienmärkte, sondern um Ergebnisse langjähriger politischer Aktivitäten. Am relativ bekanntesten in Deutschland wurde – einer kleinen, schließlich aufgegebenen Springer-Beteiligung wegen – die Politik gegen die Dogan-Gruppe mit ihrer Zeitung "Hürriyet". Aufgrund milliardenschwerer Steuer-Strafzahlungen entschlossen die Eigentümer sich zum Verkauf an einen Erdogan genehmen Konzern. Inzwischen gehören rund 90 Prozent sowohl der Fernsehsender als auch der Tageszeitungen regierungsnahen Unternehmen, schätzt Mihr.

Experiment mit offenem Ausgang

Es läuft sozusagen – wie in manchen autokratisch regierten Staaten, die halbwegs demokratische Wahlen ja keineswegs abschaffen wollen – ein Medien-"Experiment" mit offenem Ausgang: Können die Regierungen die Mehrheit der Öffentlichkeit gewinnen, wenn bei fortbestehendem Pluralismus-Anschein die großen, klassischen Medien zunehmend regierungsnahe Sichtweisen verbreiten? Oder kann so etwas in der zunehmend globalisierten Medienwelt nicht auf Dauer gut gehen? Diese Frage erklärt zumindest, warum die ROG in ihrer Kritik am deutschen NetzDG "Facebook, Google & Co" kurzerhand zum "Teil der informationellen Grundversorgung der Gesellschaft" erklärten (was ich für Deutschland und das EU-Europa für falsch bis verhängnisvoll halte): Internetauftritte oppositioneller Portale können ohne Weitere gesperrt werden. Wenn die Portale ihre Meldungen über Facebook oder Twitter verbreiten, im steten Fluss unterschiedlichster Nachrichten, dringen sie durch.

Jedenfalls forderte Mihr in Berlin auf, der türkischen Regierung nicht "den Gefallen zu tun, die Pressefreiheit für tot zu erklären". Das hieße, "mutigen Journalisten in den Rücken zu fallen". Es ist also eine Gratwanderung: Die Medienfreiheit in der Türkei für quicklebendig zu erklären, wäre auch grundfalsch.

Und es ist nicht die einzige Gratwanderung: Die Gefahr, dass die türkische Opposition Erdogans bevorstehenden Staatsbesuch in Berlin so empfinden dürfte, "als würde das Präsidialsystem von der Bundesregierung anerkannt", sieht Mesale Tolu. Dabei wurde dieses System ja in einer umstrittenen, unter Repressionen abgehaltenen und knapp ausgegangenen Volksabstimmung durchgesetzt, die vermutlich nicht zuletzt von Auslandstürken entschieden wurde, wie Erdogan sie nun wieder umwerben will (und das ja auch gerne mit Hilfe deutscher Fußballnationalspieler tut). Die regimenahen Medien werden jedenfalls alles tun, den Staatsbesuch genau so erscheinen zu lassen.

Die Gespräche dürften "nicht als Selbstzweck" geführt werden, Kritik müsste klar formuliert werden und sich nicht darauf beschränken, prominente deutsche Staatsbürger wie Tolu (die in der Haft prominent wurde) und Yücel, der es schon vorher war, freizubekommen, sagte Mihr. Und nannte weniger prominente, nicht deutsche Journalisten wie Dilek Dündar – die von einer Ausreisesperre betroffene Frau des inzwischen auch hierzulande bekannten Can Dündar, der im deutschen Exil das oppositionelle ozguruz.org leitet. Oder die zu langen Gefängnisstrafen verurteilten Journalisten der "Cumhuriyet".

Das Prominenz-Prinzip

Werden deutschen Regierungsvertreter, die ja auch ihre Agenden haben (und offenere Wahlkämpfe führen müssen als Erdogan), übers Prominenz-Prinzip hinausgehen? Das führt in Bereiche der Diplomatie, zu der schließlich auch gehören kann, sowohl mit öffentlichen als auch nicht-öffentlichen Äußerungen zu arbeiten.  

Mesale Tolu ist ebenfalls diplomatisch. Ich habe sie, die kurdischer Abstammung ist, gefragt, wie zufrieden mit der deutschen Berichterstattung aus der Türkei und zum Beispiel über kurdische Themen ist. Sie hat nichts kritisiert, sondern die "sehr schwere Arbeit", die auch deutsche Journalisten ohne türkischen Hintergrund in der Türkei leisten, gelobt. Das habe ihr auch im Gefängnis gut getan. Wichtig sei, dass "beständig" berichtet werde.

Beständig arbeitet die Gegenseite auch. Der Prozess gegen Tolu läuft weiter. Weder ihre Freilassung noch die Aufhebung des Ausreiseverbots hatten damit zu tun, dass die Anklage gegen sie fallen gelassen wurde; es waren Gesten an die deutsche Regierung. Tolu rechnet sogar damit, zu einer Gefängnisstrafe verurteilt zu werden. Fehler gestehe die türkische Regierung nämlich niemals offen ein. Zum nächsten Prozesstermin im Oktober will sie trotzdem in die Türkei reisen, um ihre Unschuld zu beweisen. Denn überdies rechnet sie damit, dass ihr Prozess so wie viele andere Prozesse um weitere Monate verlängert werden wird, bevor die Urteile fallen – und dass sie wieder wird ausreisen können.

Je länger die Prozesse laufen, die inhaltich den bekannten, abgeschlossenen Prozessen ja zum Verwechseln ähneln, desto geringer wird ihr Neuigkeitswert. Das ist, genau wie das Zermürben der Eingekerkerten (oder Angeklagten auf freiem Fuß), Teil der Strategie und des langlaufenden Medien-Experiments des Erdogan-Regimes. Wird es irgendwann überhaupt noch jemanden außer den unmittelbar Betroffenen interessieren?

Schon deshalb ist wichtig, dass auch über komplett Unspektakuläres beständig weiter berichtet wird.