"Was ist los in unserer Gesellschaft, dass ein Film im Kinderkanal für so viel Aufregung sorgen kann?", heißt es erstaunt am Ende einer von inzwischen mehreren Stellungnahmen des Hessischen Rundfunks zur Doku "Malvina, Diaa und die Liebe". Im November 2017 lief das 25-minütige Porträt der Beziehung eines jungen, islamischen Syrers und einer etwas jüngeren, christlichen Deutschen im öffentlich-rechtlichen Kinderkanal (Kika), ohne viel Aufmerksamkeit zu erregen. Im Dezember geriet der Kika dann in einen Shitstorm oder mehrere, die sich etwa auf Twitter unter den Hashtags #kika und #kikagate zeigen – und von der "Bild"-Zeitung inzwischen auch mit nicht mal mehr grenzwertigen Schlagzeilen aus völlig anderen Zusammenhängen angefeuert werden. Was ist geschehen?
Vorläufiger Antwort-Versuch: "Malvina, Diaa und die Liebe" ist ein guter Film des Regisseurs Marco Giacopuzzi. Vermutlich wäre das Porträt von zwei jungen Menschen sehr unterschiedlicher Herkunft in anderen Programmen als im Kinderkanal besser aufgehoben gewesen. Ob es im Kika überhaupt gut aufgehoben war, ist eine von vielen offenen Fragen. Und beim Ankündigungen dieser Doku hat der Hessische Rundfunk agiert, als wüsste er von der aktuellen deutschen Gesellschaft wirklich wenig.
Ein eklatanter Fehler
Den Film kann man sich im Internet immer noch anschauen. Dass im Netz fast jeder fast alles sofort abrufen kann, ist ein großer Unterschied zum linearen Fernsehen, erst recht dem in Zielgruppensendern wie dem Kika. Wie Filme, die im Internet auf Abruf warten, präsentiert werden, ist längst ein komplexes, erfolgsentscheidendes Thema für sich. Netflix beherrscht genau das perfekt, schon weil es ja auch ein Datenkrake ist. "Die Mediatheken von ARD und ZDF: ein Horrortrip" heißt ein lesenswerter uebermedien.de-Beitrag, in dem der Drehbuchautor Stefan Stuckmann kürzlich beschrieb, dass die Öffentlich-Rechtlichen in derselben Disziplin ziemlich schlecht sind.
"Malvina, Diaa und die Liebe" allerdings wird in der Kika-Mediathek sehr ansprechend präsentiert – mit einem Bild, das die Protagonisten sichtlich glücklich nebeneinander zeigt. Bloß: Dass im Begleittext zu solch einem Foto, das eben auch einen jungen Mann mit Vollbart zeigt, derselbe wochenlang als minderjährig bezeichnet wurde, war ein eklatanter Fehler. Der HR korrigierte die Angabe spät zweimal. "Diese Altersangabe wurde durch ein Missverständnis – als würde es sich auf das tatsächliche Alter des jungen Mannes zum Ausstrahlungszeitpunkt beziehen - als Bildunterschrift auf der KiKA-Online-Seite veröffentlicht. Das war ein redaktioneller Fehler, für den wir uns entschuldigen", heißt es in der umfangreichsten HR-Erklärung lapidar.
Dabei gibt es nicht erst seit dem Tötungsdelikt im pfälzischen Kandel im Dezember gewiss oft unsachliche, aber auch berechtigte Diskussionen über Altersangaben minderjähriger Flüchtlinge. Das hätte dem Sender bewusst sein müssen. Nach dem mutmaßlichen Mord in Kandel (wie die Tat inzwischen staatsanwaltschaftlich genannt wird) ging der Ärger über den Kika-Film los. Diskussionen über die ARD-Berichterstattung zur Kandeler Tat trugen dazu bei. (Falls Sie das näher interessiert: Die ARD-Position umreißt der faktenfinder.tagesschau.de-Beitrag "Wie die AfD die Wut schürt", eine ARD-kritische, aber nicht-AfD-nahe Position bietet Birgit Gärtners "Telepolis"-Beitrag "Verschleierter Frauenmord" ...).
Protagonisten sprechen für sich selbst
"'Schau in meine Welt' ist eine Dokumentations-Reihe und erzählt Geschichten konsequent aus der Sicht von Protagonistinnen und Protagonisten. Es geht darum, möglichst authentisch ihre Innensicht zu zeigen und die Welt aus ihrer Sicht zu erzählen. Dieses Genre schließt eine direkte Kommentierung oder Einordnung von außen aus, aber natürlich kann KiKA die Darstellung dieser Geschichte als Innensicht journalistisch vertreten",
heißt es in einer der Stellungnahmen. Indirekte Kommentierung gibt es in Form der üppig eingesetzten Untermalungsmusik durchaus. Doch ist es eine sympathische Haltung, Protagonisten für sich selbst sprechen zu lassen, statt dem Publikum per auktorialem Kommentar Sichtweisen nahezulegen – zumindest für puristische erwachsene Dokumentarfilm-Freunde. Wer bei ARD und ZDF vormitternächtliche Dokus sieht, ist dieses "Genre" leider kaum mehr gewohnt. Wie sinnvoll die Methode bei diesem Thema im Kinderkanal war, ist eine weitere offene Frage. Womöglich bräuchten gerade Kinder doch Einordnung. Vielleicht ist es im Gegenteil gut, dass ihnen andere, anspruchsvollere Dokus gezeigt werden als im Erwachsenenfernsehen laufen.
Nun liegen Ergebnisse (PDF) einer "Studie mit 100 Kindern zu deren Wahrnehmung der Sendung und der Beziehung von Malvina und Diaa" vor, die das beim Bayerischen Rundfunk, also der ARD angesiedelte "Internationale Zentralinstitut für das Jugend- und Bildungsfernsehen" (IZI) angestellt hat. "12- bis 13-jährige Mädchen", die sich besonders für die Doku interessieren, würden in der "Dokumentationsfigur Diaa ... eher ein Antivorbild für Mädchen, wie sie sich ihren zukünftigen Freund wünschen", sehen, lautet eines. Das entlastet den Film vom Vorwurf, er propagiere die Unterordnung des deutschen Mädchens unter Vorstellungen ihres muslimischen Freundes. Diesen Vorwurf erhob am öffentlichkeitswirksamsten der AfD-Politiker Dirk Spaniel. Ähnliche Kritik kam aber auch von anderer Seite, etwa die des "nachlässigen Umgangs mit dem fundamentalistischen Islam" von der erwähnten "Telepolis"-Autorin Gärtner.
Die IZI-Ergebnisse könnten zur Frage führen, ob diese Sichtweise – Diaa als "Antivorbild" zu zeigen – beabsichtigt war. Doch herrscht an Fragen wie an weitere Wirrungen und Wendungen kein Mangel. Etwa wegen des Facebook-Profils des Protagonisten (das wie die meisten Facebook-Seiten für alle Nutzer öffentlich sichtbar war, bis es gelöscht wurde). Dort wurde ein Like für die Facebook-Seite des vom Verfassungsschutz beobachteten Islamisten Pierre Vogel entdeckt. Das gab es tatsächlich, erklärt dazu der lapidare HR, aber nur, weil Diaa "auf ein Gewinnspiel reagiert hat, bei dem es einen Flug nach Mekka zu gewinnen gab. Zudem hat er eine Vielzahl unterschiedlicher Seiten geliked, vom Fuldaer Netzwerk gegen Homophobie bis hin zu diversen 'Erwachsenen'-Seiten. Uns zeigt das, dass er ein junger Mann ist, der noch auf der Suche nach Orientierung ist".
Zu den weiteren Wirrungen gehört, dass dann auch, natürlich von der "Bild"-Zeitung, über "Morddrohungen von Islamisten!" gegen Diaa berichtet wurde, "Grund: Mohammeds Verhalten gegenüber seiner deutschen Freundin sei zu modern" (und das mit den Vornamen Diaa/ Mohammed ist noch so eine Wirrung). Wofür all das jedenfalls spricht: dass die jungen Leute, die dem Kika bereitwillig tiefe Einblicke in ihre Privatsphären gaben, nicht wussten, worauf sie sich einließen – eben nicht nur auf eine Sendung, die ältere Kinder am frühen Abend ein- oder zweimal linear in ihrem Lieblingssender angucken können, sondern auf etwas, das anschließend jeder im Internet für jeden Zweck ge- und missbrauchen können. Der Hessische Rundfunk hätte das wissen müssen.
Aufschlussreiche Aufregung
Immerhin machte der HR anschließend, notdürftig, etwas Besseres aus der verfahrenen Lage: eine Erwachsenen-Fernsehdiskussion, wie sie seit Jahrzehnten bei heiklen Themen fernseh-üblich ist. Die ist ebenfalls nichtlinear ansehbar und sehenswert (90 Minuten, in die die 25-Minuten-Doku integriert ist). Moderator Philipp Engel sprach mit der Medienforscherin Maya Götz vom erwähnten IZI, der HR-Fernsehdirektorin, Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor und AfD-Mann Spaniel. Auch wenn es in Besprechungen (wie der der "FAZ") hieß, es sei "von vornherein entschieden" gewesen, "wie die Sache laufen würde", da nur ein Kika-Kritiker im Studio saß, der auch noch von der AfD kam, handelt es sich um einen vernünftigen, konstruktiven Argumentenaustausch. Beziehungsweise sollte es sich bei Zuschauern so verhalten, wie es das IZI für "Preteens" festgestellt hat: dass sie sich von eventuellen Aussageabsichten der Sendungsmacher unabhängig eine eigene Meinung bilden. Den Eindruck, dass der Hessische Rundfunk zumindest zeitweise fahrlässig agiert hat, dürften viele Zuschauer mitgenommen haben.
Ein Fazit kann nur ein Zwischenfazit sein: Die aufschlussreiche Aufregung hängt sowohl mit krassen Fehlern des Senders als auch mit Kampagnen von rechts bis weit rechts zusammen, die sich diese zunutze machten. Das Thema ist wichtig. Zweifellos wurde die Gesellschaft durch die Flüchtlingspolitk seit 2015 verändert und wird es noch weiter. Es gibt jede Menge offene Fragen, auf die es oft gültige Antworten gar nicht geben kann, sondern bloß individuelle Meinungen. Widersprüche zu verschweigen oder möglichst knapp zu behandeln, hilft niemandem. Schon weil diese gesellschaftliche Entwicklung Kinder besonders betrifft und umso länger begleiten wird, ist es sinnvoll, sie auch zum Kinderfernseh-Thema zu machen. In welcher Form das am ehesten sinnvoll ist, wird nun diskutiert. Das immerhin hat die Kika-Sache – leider auch auf Kosten von Malvina und Diaa – erreicht.