Information und Unterhaltung
Der bekannteste deutsche Investigativreporter guckt lieber Arte, ist aber selbst für den Dieter-Bohlen-Sender RTL unterwegs. Was das mit Dokumentarfilmern am "Rande des Prekariats", mit Sender- statt Zuschauerlogik und verrutschten Konkurrenzlagen zu tun hat.

Früher oder später bekommt das öffentlich-rechtliche Fernsehen jedes Aushängeschild, das es haben möchte. Moderatoren wie Jörg Pilawa und Kai Pflaume begannen bei Privatsendern. Gar bei einem deutschen Musikfernsehsender (so was gab es mal) startete die Karriere Matthias Opdenhövels, der nun dem Alles-Mögliche-Moderator Johannes B. Kerner nachfolgt. Manchmal kann es dauern, bis die Abwerbung publikumsattraktiver Moderatoren gelungen ist, wie bei Günther Jauch. Aus ungefähr denselben Gründen kann die Zusammenarbeit nicht so lange dauern, wie die Sender es gerne hätten: Jauch hat seine ARD-Polittalkshow schneller aufgegeben als alle Kollegen und quizzt lieber wieder bei RTL vor sich hin, ohne mit "Gremien-Gremlins" (diesen Privatfernseh-affinen Begriff prägte er für Rundfunkrats-Mitglieder) darüber streiten zu müssen, wieviel er denn nun verdient. Dass beitrags- und werbefinanzierte Sender um dieselben Inhalte konkurrieren, dass diese jene bei Bundesliga-Fernsehrechten überbieten konnten, ist jedenfalls lange her.

Im Umkehrschluss hat es auch etwas zu bedeuten, wenn Medien-Persönlichkeiten nicht öffentlich-rechtlich unterwegs sind. Am Montag gab es es in Berlin eine Podiumsdiskussion, auf der der Star-Investigativreporter Günter Wallraff nicht nur einmal beklagte, bei den Öffentlich-Rechtlichen "ein bisschen geächtet" zu sein. Seine Lieblingssender seien Arte, 3sat und die Dritten Programme, sagte er, und: "Ich warne vor RTL". Doch der "Schwiegertochter gesucht"-/ "Bauer sucht Frau"-Sender ist's, der seit 2012 circa dreimal pro Jahr "Team Wallraff" ausstrahlt.

Wallraff wiederholte, was er im Oktober vor seinem 75. Geburtstag gesagt hatte, "ich werde nicht benutzt, ich nutze den Sender", und dass er über RTL Menschen erreiche, die etwa im Pflegebereich arbeiten, über dessen Arbeitsbedingungen sein Team recherchiert. Diese Recherchen führen manchmal zu Klagen, so im Fall der Marseille-Kliniken. Da stehe RTL hinter ihm, sagte Wallraff: Es sei genug Etat vorhanden und vertraglich gewährleistet, Prozesse "notfalls bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte" führen zu können. Hingegen beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen hätten die "Hausjuristen" solche teuren Verträge verhindert.

Gut natürlich, wenn es im Ansatz publizistische Konkurrenz gibt. Und um Wallraff braucht sich niemand zu sorgen. RTL kann aus den wenigen (daher insgesamt nicht so teuren) Wallraff-Sendungen Renommee beziehen, das es als Teil des theoretisch von hehren Grundsätzen bestimmten Bertelsmann-Konzerns braucht und im Privatfernseh-Alltag sonst selten liefert. Schwerer hat es, wer nicht so prominent ist, wie Wallraff seit den 1970er Jahren gegen enorme Widerstände wurde. Die Berliner Diskussion veranstaltete die kämpferische Dokumentarfilmer-Interessenvertretung AG Dok, die nach eigenen Angaben "Deutschlands größter Filmverband" ist. Es ging hoch her.

"Am Rande des Prekariats"

Auch auf dem Podium saß Dietmar Post von der Produktionsfirma "play loud! productions", der unter anderem beklagte, dass auch seine Firma keine Rechtsschutz-Zusagen vom ZDF bekommen habe – selbst im Fall des Dokumentarfilms "Deutsche Pop Zustände", der zu einem hohen Anteil "illegale Musik" enthielt, weil es darin um rechte bis rechtsextreme Musik geht. (Darüber schrieb ich 2015 eine Kritik). "Man kann solche Filme dann nicht mehr machen", sagte Post.

Zu mobilisieren versteht die AG Dok. Das hängt mit dem Herzblut der Dokumentarfilmer zusammen, das wiederum daher rührt, dass sich solche Dokumentarfilme ohne Herzblut in der Tat kaum machen lassen. Und sie mobilisiert oft. "Dokumentarfilmschaffende am Rande des Prekariats" hieß eine Aktion am Rande des Leipziger Dokumentarfilm-Festivals. Bei einer Filmpreis-Verleihung im Sommer protestierte sie auch, unter anderem wegen der wenigen und schlechten, weil späten Dokumentarfilm-Sendeplätze im Fernsehen. Das allerdings löste Gegenreaktionen aus: "Dass Dokumentarfilmer die Umstände beklagen, ist nicht neu, mokierte sich Boris Rosenkranz bei uebermedien.de:

"Beachten muss man dabei, dass es den Nominierten bei ihrem Protest ausschließlich um den 'künstlerischen 90-Minuten-Dokumentarfilm' geht, die angebliche Königsdisziplin. Alles, was drunter ist, auch Dokumentarfilme von immerhin 45 Minuten Länge – dafür kämpfen die Regisseure nicht",

schrieb Rosenkranz, der selber als "freier Magazin-Autor für das NDR Fernsehen" auch dokumentarische, bloß eben kürzere Beiträge herstellt.

Sind wir also wieder in einer der vielen Interessen-Auseinandersetzungen, die sich an allen Ecken und Enden ums reiche öffentlich-rechtliche Fernsehen ranken. Alle haben ihre Gründe und aus ihrer Sicht recht. Auch die ARD selbst, wenn sie darauf hinweist, dass "der Anteil der Informationssendungen am Gesamtprogramm des Ersten bei 42 %" läge. Kann es stimmen, dass es nur wenige Dokumentarfilm-Sendeplätze gibt?

Es liegt selbstverständlich in den Augen der Betrachter. "Information" ist ein weiter, breiter Begriff, der zum (nur leicht polemischen) Beispiel auch Sendungen wie "Markencheck" beinhaltet. Da testet die ARD Tiefkühlpizzas und beantwortet selbstgestellte Fragen wie "welcher Discounter schneidet am besten ab?". Das ZDF bietet so was auf seinem Beibootsender "ZDF-Info" unter dem Titel "Deutschland, deine Marken" ebenfalls an und hält es für eine gute Idee, Filme etwa über ein bekanntes Fernsehbier in der Mediathek mit "Die Doku-Reihe porträtiert die bekanntesten deutschen Marken, die unseren Alltag prägen. Die Firmen öffnen dafür ihre eigenen Archive, Werbefilme aus alten Zeiten sorgen für Unterhaltung" anzupreisen.

Information muss eben für Unterhaltung sorgen. Kein Wunder, dass sich Dokumentarfilmern mit Herzblut da der Magen umdreht. Da sind wir bei einem der Knackpunkt: Die Konkurrenzlagen sind verrutscht und rutschen weiter. Gewiss gab und gibt es Gründe für ARD und ZDF, sich gegenseitig Konkurrenz zu machen (schon weil in den 1960ern unklar schien, ob es überhaupt ein zweites Fernsehprogramm braucht). Aber längst gehört nicht einmal mehr Konkurrenz zwischen öffentlich-rechtlichen und privaten Sendern zu den jüngsten Entwicklungen. Seitdem alles sich auch nichtlinear ansehen lässt, braucht es jedenfalls keine doppelten "Markenchecks" mehr.

"Die Sender programmieren nach Senderlogik, nicht Zuschauerlogik", sagte bei der Diskussion der Thüringer Staatssekretär für Medien, Malte Krückels, aus anderen Gründen. Er bezog sich darauf, dass sonntagabends die ARD ihre Krimis sendet und das ZDF sein "Herzkino", also ebenfalls Fernsehfiktion, statt etwa einer Dokumentation. Das würden Programmplaner natürlich weit von der Hand weisen, schließlich handelt es sich um unterschiedliche Genres. Aber Konkurrenz neu zu definieren, ist dringend nötig, nicht zuletzt, weil sich immer noch mehr abrufen lässt. "Die Leute gucken Netflix", sagte Krückels auch, und Netflix kostet deutlich weniger als der Rundfunkbeitrag.

Ungewöhnliche Koalitionen

Einerseits bieten ARD und ZDF und ihre Nebensender linear zu viel vom gleichen an, weshalb für Dokumentarfilmer zu wenige, entlegene Sendeplätze übrig bleiben, um die sie wiederum untereinander konkurrieren müssen. Konkurrierende Abnehmer jenseits der Öffentlich-Rechtlichen gibt es ja auch nicht. Andererseits wäre es im Interesse von ARD und ZDF, im linearen Fernsehen besser sichtbar machen, dass sie eben nicht nur das bieten, was im Ersten und Zweiten zur Prime-Time ins Auge springt, Krimis und "Markenchecks". Sondern dass sie überdies weiterhin allerlei herstellen, das es im freien Markt anderswo nicht gibt.

Dass ARD und ZDF so etwas allein kaum entscheiden können, weil alle Sender an "Programmprofile" gekoppelt sind, die nur per Rundfunkstaatsvertrag (RStV) geändert werden könnten, macht das komplizierter. Allerdings sind die Komplikationen wechselseitig: Jeder neue RStV muss durch alle 16 Landtagen, und auch das dürfte zusehends noch schwieriger werden. Mit Blick auf kommende Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen – die gemeinsam den MDR* tragen – berichtete Krückels: Wären 2016 in Sachsen-Anhalt die Grünen nicht in den Landtag gekommen, was sie knapp schafften, hätte die Linke mit der CDU kooperieren müssen – der schwachen SPD und der starken AfD wegen. Schon vor den nächsten Wahlen sind die nächsten RStV-Abstimmungen, etwa für die von ARD und ZDF erhofften, vor allem, aber nicht nur von der AfD bekämpften Rundfunkbeitragserhöhungen, in ostdeutschen Landtagen keine Selbstläufer.

Es wird mehr ungewöhnliche Koalitionen geben, was ja durchaus erfrischen kann. Wenn man so will, bilden Wallraff, der einst undercover bei der "Bild"-Zeitung Hans Esser war, und der Dieter-Bohlen-Sender RTL ja auch eine. Höchste Zeit, dass auch ARD und ZDF öfter Ungewöhnliches tun – und zum Beispiel ab und zu um 20.15 Uhr im Ersten oder Zweiten einen 90-minütigen Dokumentarfilm ausstrahlen.
 

* Offenlegung, auch wenn Sie's längst wissen: Das Altpapier, das bis August bei evangelisch.de erschien und für das ich weiterhin schreibe, erscheint inzwischen beim MDR.