Der Ebertplatz am Rand der Kölner Innenstadt ist nicht nur ein Beispiel für die architektonische Stilform des "Brutalismus", deren Name vom französischen Wort für Sichtbeton, "béton brut", herrührt. Inzwischen wird er häufig als "No-go-Zone" ("Kölner Stadtanzeiger") bezeichnet. Internationale Medien von der "Daily Mail" bis zu breitbart.com greifen das auf, zum Teil gerne. Schließlich steht Köln seit Silvester 2015 auch für Schattenseiten der deutschen "Willkommenskultur", die nicht überall so positiv gesehen wird wie in weiten Teilen der deutschen Medienlandschaft.
Von einem eher harmlosen Vorfall berichtete die Boulevardzeitung "Express" vor kurzem: "Brennpunkt Ebertplatz: Dreh für ZDF-Serie 'Heldt' abgebrochen". "Dort drehen wir nicht mehr", wird eine Produzentin (von der deutschen Sony-Tochter) zitiert. Da sind also zwei Welten aufeinandergeprallt wird, die wenige Berührungspunkte besitzen: die blühende, reiche Landschaft der deutschen Fernsehkrimis und die gesellschaftliche Realität.
"Brutal in Brand gesteckt"
"Heldt" ist eine in Bochum spielende, zum Teil in Köln gedrehte Krimiserie und für ZDF-Verhältnisse relativ flott. Derzeit läuft, immer mittwochs um 19.25 Uhr, also im Werberahmenprogramm, die fünfte Staffel. Es geht hart zur Sache, aber gutgelaunt zu. "Ein Obdachloser wird brutal in Brand gesteckt und ein Video davon ins Netz gestellt", teasert das ZDF online die (noch bis Mitte Dezember in der Mediathek verfügbare) Folge "Killtube" an, wobei schon das dazu ausgewählte Szenenfoto zeigt, dass Kommissar Nikolas Heldt sich die Laune nicht verdrießen lässt.
Wie geschmackvoll und sinnvoll es ist, das Anzünden eines Obdachlosen für einen öffentlich-rechtlichen Werberahmenkrimi in Szene zu setzen, darüber ließe sich streiten – wenn es nicht Krimis wie Sand am Meer gäbe, über deren Details wirklich kein Streit lohnt.
Heute startet die neue ARD-Krimireihe "Der Barcelona-Krimi" mit Clemens Schick als "eigenwilligem Kommissar Xavi Bonet". Es geht in der deutschen Produktion "um den Mord an .. einem illegalen Einwanderer, der Dosenbier verkaufte". Am Freitag sendet das ZDF ebenfalls um 20.15 Uhr zwei Krimifolgen-Premieren; im "Fall für Zwei" müssen die "Zwei" aufklären, ob "ihr ehemaliger Englischlehrer Horst Felsenstein ... die Oberstudiendirektorin Vera Kasseck erschlagen" hat, bevor die "SOKO Leipzig" den "Mord des Fitnessstudio-Betreibers Sven Brehme" aufklärt.
Am Samstag wuppt erneut das ZDF die quasi-tägliche Fernsehkrimi-Premiere. In "Stralsund - Kein Weg zurück" geht es um Mord und Vergewaltigung von Kassiererinnen. Verdächtig ist unter anderem ein Flüchtling. "Nina muss sich eingestehen, dass sie mit dieser Situation an ihre Grenzen kommt", blendet die Inhaltsangabe aus; Nina Petersen ist die von Katharina Wackernagel gespielte Kommissarin. Am Sonntagabend im ARD-"Tatort" führt dann ein neuer Fall Kommissarin Charlotte Lindholm "in menschliche Abgründe und sie selbst an den Rand der Belastbarkeit" (ARD).
Mordarten und -motive en masse
Im Anschluss folgt keine Talkshow, sondern eine "Urbino-Krimi"-Wiederholung, mit der sich die Programmplaner ein Späßchen gestattet haben könnten: Die Aushilfs-Rechtsmedizinerin Malpomena del Vecchio, die "eine grausige Nachricht" vom "Mord im Olivenhain" erfährt, gibt schon wieder die (eigentlich ambitionierte) Katharina Wackernagel ... Die Krimiflut komplettieren neben den Hauptabend-Krimis die Serienfolgen vom früheren und späteren Vorabend. In der ZDF-"SOKO Wismar" am Mittwoch löste "die Leiche des Amateurboxers Ronny Schnell im Fitnessraum" Ermittlungen aus, am heutigen Donnerstag muss die "SOKO Stuttgart" klären, warum einer "mit einer Axt erschlagen" wurde; in der nächste "SOKO Kitzbühel"-Folge flieht eine jugendliche "Cosplay"-Spielerin "schwerverletzt ... in den Wald" und wird dort ermordet. In der kommenden, 98. Folge der ARD-Serie "Hubert und Staller" stößt ein Polizeirat "gleich bei seinem ersten morgendlichen Joggingversuch" auf "eine weibliche Leiche", in deren Magen dann "Rückstände von Frostschutzmitteln" gefunden werden, und bei den "Rosenheim-Cops", immer dienstags in der ARD, wird "der erfolgreiche Kunstschreiner David Weidner ... ermordet aufgefunden".
Im Programm stoßen sie auf die Nachrichtensendungen mit hohen, zu großen Anteilen gewiss berechtigten Ansprüchen, zum Beispiel dem, "ein Garant für den aus den Regionen gespeisten freien bundesweiten Diskurs in unserem föderalen Land" zu sein (wie es die ARD gerade für die "Tagesschau" postulierte).
"Sollen wir über jeden Mordfall in der Tagesschau berichten?"
Dort werden andere Schwerpunkte gesetzt. Ende vergangenen Jahres erntete die ARD Kritik dafür, dass ihre Hauptnachrichtensendung zunächst nicht darüber berichtet hatte, dass in Freiburg ein mutmaßlicher Mörder und Vergewaltiger, ein nach eigenen Angaben minderjähriger afghanischer Flüchtling, nach monatelanger Suche verhaftet worden war. "Sollen wir über jeden Mordfall in der Tagesschau berichten? Ist eher eine rhetorische Frage – natürlich nicht", schrieb Kai Gniffke im Dezember im "Tagesschau"-Blog.
Nein, eher denken sich ARD und ZDF eine irrsinnige Menge fiktionaler Morde aus, für die "die gesellschaftliche Realität um uns herum" (Gniffke) bloß zwischendurch als Kulisse herhält. Im zweiten "Barcelona-Krimi" in einer Woche wird es nicht um Separatismus in Katalonien gehen, sondern um die Frage, ob mit "Feuerquallengift" gemordet wurde. Gewiss geschieht die Nicht-Thematisierung von Kriminalität in den Nachrichtensendungen mit respektablen Argumenten, über die sich zumindest streiten ließe. Vielleicht hallt auch der von Wahlverlierer Joachim Herrmann in der "Berliner Runde" erhobene Vorwurf, ARD und ZDF hätten "beigetragen ... , nicht die AfD klein zu machen, sondern groß zu machen" (siehe die Medienkolumne "Die Schuld-Frage"), nach. Stärkt es Parteien vom rechten Rand, wenn über Kriminalität im Zusammenhang mit Migranten berichtet wird? Tut es, wie sich etwa beim Twitter-Hashtag #Ebertplatz zeigt. Doch schwächt es die Glaubwürdigkeit der Medien nicht noch stärker, wenn sie möglichst wenig darüber berichten? Das wäre dann die Frage.
Ich denke, könnte es die oft angegriffene Glaubwürdigkeit nur stärken, wenn öffentlich-rechtliche Nachrichtensendungen lokale Probleme wie am Kölner Ebertplatz thematisieren. Als Krimi-Schauplatz besitzt Köln ja überregionale Bedeutung genug. Oder die Probleme im Berliner Tiergarten, wo eine erstklassige "Tagesspiegel"-Recherche anhand eines anderen Mordfalls Zusammenhänge mit der Flüchtlingspolitik exemplarisch herausgearbeitet hat. Diskussionen darüber, ob es in Deutschland "No-go-Zonen" gibt, auszublenden – also eindeutig interessengeleiteten Seiten zu überlassen, kann und darf für die Öffentlich-Rechtlichen keine Lösung bei.
Zum Eindruck der Unwucht trägt noch etwas bei: dass ARD und ZDF im fiktionalen Bereich in einem irrsinnigen Ausmaß auf das setzen, worauf sie in ihren Nachrichten weitgehend verzichten, und insgesamt mehr ausgedachte Morde zu Unterhaltungszwecken verfilmen als in Deutschland vermutlich überhaupt geschehen. Insofern gäbe es noch einen Mittelweg, Glaubwürdigkeit und Renommee der Nachrichtensendungen zu stützen: die Zahl der Fernsehkrimis im Programm drumherum auf ein vernünftiges Maß zu reduzieren. Gibt es nicht andere fiktionale Genres und andere Fernsehformen, zum Beispiel dokumentarische, genug?