Heute vor 23 Jahren geschah das Unvorstellbare. Zwei vorher entführte Flugzeuge flogen in die beiden Twintower des World Trade Centers in New York und brachten kurz danach beide Türme zum Einstürzen. Fast 3000 Menschen starben in den Trümmern. Mehr als doppelt so viele wurden verletzt. Ein weiteres entführtes Flugzeug steuerten Terroristen in den Pentagon, ein viertes sollte ins Weiße Haus in Washington gesteuert werden und stürzte aufgrund von intervenierenden Passagieren und Crew-Mitgliedern kurz vorher in Pennsylvania ab. Insgesamt wurden vier Flugzeuge von 19 Al-Qaida-Terroristen entführt. Die islamistischen Terroranschläge schockierten Millionen von Menschen weltweit und veränderten die tektonischen Platten der Weltpolitik. Bis heute.
Terror und Zerstörung
Ich kann mich noch gut an den 11. September 2001 erinnern. Ich war in Gävle an der Ostküste Schwedens nördlich von Stockholm auf der Suche nach entfernten Verwandten von mir.
Erst am Abend des 11. Septembers, als wir in der Jugendherberge von Gävle ankamen, erfuhren wir von den Anschlägen. Es gab eine riesige Traube von jungen Leuten, die vor dem einzigen Fernseher im Aufenthaltsraum der Jugendherberge standen und fassungslos auf den Bildschirm starrten. Wir wunderten uns, was so wichtig war, dass niemand im Raum etwas anderes tat als unentwegt auf den Fernseher zu blicken. Wir setzten uns dazu und waren genauso geschockt wie alle anderen. Dann kamen auch wir die nächsten Stunden nicht wieder vom Bildschirm weg. Wieder und wieder wurden die Bilder der einstürzenden Türme wiederholt und mit immer aufgeregteren Kommentaren versehen. Das Entsetzen war unbeschreiblich.
„Nichts wird mehr so sein, wie es war!“, war die spontane Reaktion von ganz vielen.
Junge Menschen aus aller Welt diskutierten in jener Nacht in der Jugendherberge in Gävle und vermutlich fast überall auf der Welt, was diese Terrorattacken weltpolitisch bedeuten würden und welche Folgen sie hätten. Schnell war klar, dass die USA zu einem groß angelegten Rachefeldzug gegen die "al-Qaida"-Terroristen und die Taliban in Afghanistan ansetzen und in den Krieg ziehen würde. Die NATO rief zeitgleich erstmals den Bündnisfall aus. Auch deshalb wird der 9. September 2001 von vielen als einschneidender Paradigmen- oder Epochenwechsel gewertet. Gleichzeitig rückte islamistischer Terror an die Spitze der internationalen Sicherheitsagenda. Bis heute.
Die Operation „Enduring Freedom“ der US-Regierung unter Präsident George W. Bush und der Kampf gegen den Terror wurden zu zentralen Aufgaben der US-Amerikanischen Außenpolitik erhoben. NATO-Truppen marschierten im Oktober 2001 in Afghanistan ein und im Dezember 2001 wurden die Taliban entmachtet. Erst im Jahr 2011 konnte der mutmaßliche Drahtzieher der Terrorattacken, Osama Bin Laden, in einem Versteck in Pakistan von US-Amerikanischen Spezialtruppen erschossen werden.
Der Einmarsch in Afghanistan und die Entmachtung der Taliban bedeuteten aber nicht das Ende der Kriegshandlungen. Im März 2003 rückten US-Streitkräfte und Verbündete ohne UN-Mandat im Irak ein. Es wurde als eine präventive Maßnahme im Kampf gegen den Terror gedeutet, zumal Sadam Hussein, der damalige Führer im Irak, verdächtigt wurde, Massenvernichtungswaffen zu besitzen. Ein Vorwurf, der sich nie beweisen ließ.
Radikalisierung
All diese Kampfhandlungen und Spezialoperationen hatten massenhaft Tote und Verletzte in der Zivilbevölkerung in Afghanistan und im Irak zur Folge und brachten Leid, Zerstörung und Massenflucht. Die Kriegshandlungen führten zur weiteren Radikalisierung vor allem von jungen Menschen in der islamischen Welt, die gegen die in ihren Augen unrechtmäßigen Invasionen protestierten und sich mit immer perfideren Terrorattacken bei Kampfhandlungen und in den Großstädten der westlichen Welt wehrten. Bis heute ist die Gewaltspirale von Terrorattacken – Racheoperationen und neuen Terrorattacken - ungebrochen.
Als Konsequenz der US-Amerikanischen Kampfhandlungen und Besetzungen in Afghanistan und im Irak wurde der islamistische Fundamentalismus in den Zweitausender Jahren massiv ideologisch gefüttert. Aber auch rechtspopulistischer und christlicher Fundamentalismus in der sogenannten westlichen Welt wurden seitdem immer stärker. Sie profilieren sich damit, dass sie den religiösen Islam mit islamistischen Terror gleichsetzen und verweigern bis heute jede Form der Differenzierung. Einfache Freund-Feind-Schemata ersetzen differenzierte Analysen und Bemühungen um Gespräche und Verständigung.
Aktuell sind rechtspopulistische Evangelikale und christliche Fundamentalist*innen in den USA das Zünglein an der Waage bei vielen kontroversen Themen wie Abtreibung, Frauenrechte und Rechte von Minderheiten. Sie stützen sich auf starke rechte Netzwerke und finanziell potente Unterstützer*innen, um damit auch Wahlen entscheiden zu können. Ihre unterkomplexe Gut-Böse-Ideologie lässt kaum diplomatische Korridore zu und erschwert den Schutz von Minderheitengruppen.
Unheilige Allianzen
Beunruhigend ist, dass die fundamentalistische Radikalisierung religiöser und weltanschaulicher Gruppierungen weltweit einerseits dazu geführt hat, immer unerbittlicher die jeweils anderen zu verteufeln und zu entmenschlichen. Andererseits ähneln sich die Argumentationsfiguren gegen Minderheiten in erschreckender Weise. Insbesondere Geflüchtete, Migrant*innen, Schwarze, Person of Color und queere Personen haben darunter zu leiden.
Die Chefideologen des Vatikans sind sich erstaunlich einig mit islamistischen Mullahs oder anderen religiös und weltanschaulich motivierten Fundamentalist*innen, wenn es um die Ablehnung des Rechts auf Schwangerschaftsabbruch, der Gleichberechtigung von Frauen und von queeren Personen geht. Die Sündenbockfunktion von Minderheitengruppen wird immer wieder angewandt, um von eigenen Verfehlungen und Unzulänglichkeiten abzulenken. Hass und Hetze werden zur Mobilisierung der eigenen Klientel genutzt.
Die beschriebenen Entwicklungen sind alles andere als neu. Bereits vor „Nine Eleven“ war die Tendenz klar erkennbar. Aber seitdem hat sich diese Tendenz radikalisiert. Wer die Wahlergebnisse in Thüringen und Sachsen in den letzten Wochen verfolgt hat und nun auf Brandenburg schaut, weiß, dass auch in Deutschland und in fast allen Ländern Europas die Erstarkung rechtspopulistischer, rechtsnationaler und fundamentalistischer Gruppierungen und Parteien stetig zunimmt. Sie alle profilieren sich vor allem durch rassistische Abgrenzung von Geflüchteten, Migrant*innen, Schwarzen und Person of Color; durch Diffamierung von Personen diverser Geschlechtsidentitäten, queere und behinderte Personen.
Bündnisse von Minderheiten
All diese Entwicklungen erfüllen mich mit Sorge. Und ich frage mich, ob ich mich in Zukunft noch trauen werde, so offen mein Queersein zu zeigen und zu leben, wie ich es bisher getan habe. Diese Frage stellen sich in diesen Tagen viele meiner Freund*innen, die queer sind oder Schwarz oder aus anderen Gründen als anders gelesen werden. Viele von ihnen haben bereits Übergriffe erlebt oder sogar Morddrohungen erhalten. Einschüchterung und Druck werden ausgeübt, um demokratisches zivilgesellschaftliches Engagement zu unterbinden.
Ermutigung
Ich denke in solchen Situationen immer wieder an ein Zitat von Audre Lorde, die verstorbene schwarze lesbische Dichterin und Aktivistin aus der Karibik und den USA, die ich in den achtziger Jahren in Hamburg bei einer Lesung kennen gelernt habe. Diese Begegnung hat mich sehr inspiriert. Sie sagte es ungefähr so:
Wenn ich mich traue stark zu sein und meinen Träumen und Visionen zu folgen, ist es nicht mehr so schlimm, dass ich Angst habe!
Die Angst ist da und wird da bleiben. Daran gibt es nichts zu rütteln. Aber ich möchte mich dennoch nicht einschüchtern lassen. Das ist ja genau das, was fundamentalistische und rechte Gruppen erreichen wollen. Das darf ihnen nicht gelingen. Daher ist es für mich wichtiger denn je, sich nicht vereinzeln zu lassen. Netzwerke und Bündnisse von Minderheitengruppen und ihren Unterstützer*innen sind wichtig, um rechten Terror etwas entgegen zu setzen. So wie das queere Gruppen und ihre Unterstützer*innen beispielsweise auf CSD-Paraden in vielen Städten in Ostdeutschland getan haben, als rechte Gegendemos queere und queer-freundliche Teilnehmende bedroht haben und die CSD-Paraden sprengen wollten. Es ist ihnen nicht geglückt. Ich hoffe, das bleibt auch in Zukunft so!
Die Entwicklungen seit dem 9. September 2001 zeigen allerdings, dass es dafür keinerlei Garantien gibt. Zivilgesellschaftliches Engagement ist kein Selbstläufer. Es braucht jede einzelne Person weltweit dafür, demokratische Entscheidungsprozesse und Minderheitenrechte zu verteidigen.