Warum queere Theologie?
Queere Theologie ist kein „Minderheitenprojekt“ bzw. eine Theologie von/für/über LGBTQI*+ Menschen. Letzteres ist sie sicherlich auch. Und gleichzeitig so viel mehr. Queere Theologie ist kritische Theologie, die allen gut steht, die sich über die Bilder aus Bautzen erschrecken oder nicht richtig wissen, wie sie den Eklat um das "queere Abendmahl" in Paris einordnen sollen.

Es ist Samstag kurz vor zwei Uhr. Die Sonne steht hoch am Himmel. Es ist ein warmer Augusttag. Der Platz vor der Maria-Martha Kirche füllt sich mit bunten Pride-Flaggen, Musik und ausgelassenen Menschen. Die Stimmung ist gut. Trotzalledem. Es ist der zweite Christopher-Street-Day (CSD) in Bautzen.

Rund 1000 Menschen gehen mit. Gut dreimal so viele, wie im letzten Jahr. Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite stehen knapp 700 Menschen, überwiegend schwarz gekleidet. Deutschlandflaggen wehen über der Menge. Es ist das Ergebnis der Aufrufe rechtsextremer Gruppen zu einer "Gegendemo" samt queerfeindlicher Transparente, Beschimpfungen und brennenden Regenbogen-Flaggen. Angesichts dieser Bedrohung sagen die CSD-Veranstalter*innen die geplante After-Show Party wieder ab. Der Schrecken auf Social Media und in den Kommentarspalten über die Bilder ist groß. Auch bei mir, obwohl ich aus eigener Erfahrung weiß, wie gefährdet Pride-Paraden und CSDs sind. Obwohl ich weiß, dass Übergriffe auch andernorts und ohne Aufrufe zur rechten Mobilisierung erfolgen. Obwohl ich weiß, dass wir derzeit keinen "Rechtsruck" erleben, sondern die Ergebnisse eines strategisch-rechten Hegemonieaufbaus beobachten können. 

 

Queerfeindlichkeit als Türöffner

Das ist die politische Dimension queerer Theologie. Queerfeinlichkeit und Antifeminismus gehören fest zur politischen Strategie rechter Gruppen und sind gerne untermauert mit christlichen Narrativen. Auch in Bautzen versammelte man sich "Gegen Genderpropaganda und Identitätsverwirrung". Aus der Menge rief man: "Jeder Patriot kennt nur zwei Geschlechter". Queerfeindlichkeit und Antifeminismus fungieren dabei gerne als Türöffner und Anknüpfungspunkt zu konservativen Gruppen. Wie das historisch gewachsen ist und welche politischen Dimensionen das hat, haben andere schon ausführlich dargelegt (z.B. Antje Schrupp in ihrem Vortrag "Antifeminismus als Kitt einer globalen Rechten"). Worauf es mir heute ankommt ist, dass eine evangelische Theologie hier wach sein muss und sich klar abgrenzt. Dazu gehört es sprachfähig zu sein, heteronormative Bilder und Narrative entlarven zu können und ihre normativen Gehalte zu hinterfragen. Und deutlich zu erkennen, wenn rechte Propaganda an die eigene familienethische Tür klopft. Eine grundständige Bildung in kritischer queerer Theologie tut jeder Person gut, die sich über die Bilder von Bautzen erschreckt. 

 

Warum protestantische Gelassenheit nicht ausreicht

Dass rechte Kulturkämpfer, evangelikale Inluencerinnen und konservative Christ*innen beim Thema Queerfeminismus auf einmal Schulter an Schulter stehen, konnte man ebenfalls in den Reaktionen auf die Eröffnung der Olympische Spiele erkennen (auch evangelisch.de berichtete). Teil der Eröffnungsfeier war eine fabelhafte Showeinlage von DJane Barbara Butch und anderen queeren und Drag-Künstler*innen. Diese hantierten in ihrer Inszenierung mit Anspielung auf Kunstgemälde, wie Da Vincis "Letzten Abendmahl" oder van Bijlert "Fest der Götter". Das queere Abendmahl erregte bei konservativen Christ*innen und rechten Kulturkämpfer*innen lautstarke Empörung und wortstarke Pressemitteilungen. Auf Seite der evangelischen Kirche in Deutschland nahm ich eine gewisse Unbeholfenheit wahr. Entweder rief man zu einer "protestantischen Gelassenheit" auf (eine Haltung die m.E. nicht besonders Ally-tauglich ist und dazu einer ordentlichen Portion gesellschaflticher Priviligien bedarf) oder man ließ sich auf die reflexhafte Abwehrdebatte ein, ob das Dargestellte denn nun wirklich eine Abendmahlsszene gewesen sei. 

Was in der gesamten Debatte fehlt ist in meinen Augen ein geschulter queertheologischer Blick auf die Kulisse und die Reaktionen. Dass das "letzte Abendmahl" popkulturell immer wieder dargestellt wurde (ja, auch von queeren Menschen) und wird, ist nun wirklich kein Novum. Bemerkenswert sind die Empörung und Blasphemie-Vorwürfe aus christlichen Reihen. Welche Körper dürfen was aus dem christlichen Glauben wie darstellen? Und welche Körper gelten als unanständig oder anstößig? Welche Vorstellungen von Geschlecht, Sexualität und Anständigkeit sind in der Empörung aufgehoben? Wie werden sie im Christentum inszeniert? Da wo etwas verunanständigt werden kann, dort herrscht eine normierte Vorstellung von "Anständigkeit". Es ist nicht die Drag-Performanz, die das Christliche sexualisiert. Es ist die sexualisierte Ordnung der Dinge, die unsichtbar wirken und im Moment queerer Inszenierung sichtbar gemacht werden. Wenn Marcella Althaus-Reid ihren berühmten Satz spricht "alle Theologie ist sexuelle Theologie" meint sie genau diesen Zusammenhang. Eine sexuelle Anständigkeitsordnung herrscht bereits vor. Queere Körperpraxis macht sie sichtbar. Diesen Zusammenhang kritisch zu beleuchten hätte dem ein oder anderen evangelischen Pressekommentar von kirchenleitender Seite gut getan. Das ist die gesellschaftspolitische Dimension von queerer Theologie. Sie ist kein "Minderheitenprojekt" bzw. eine Theologie von/für/über LGBTQI*+ Menschen. Das ist sie sicherlich auch. Und gleichzeitig so viel mehr. Es ist eine grundständige Fortschreibung befreiungstheologischer und feministischer Kritik und Ansätze. Sie dekonstruiert, legt frei und schafft so neue Räume. Gott queer denken, das steht m.E. jeder Theologie gut. 

 

Wo fange ich an? 

Wer sich im Englischen sicher fühlt, die*der kann gleich zu der programmatischen Einführung „Queer Theology. Beyond Apologetics“ von Linn Marie Tonstad greifen. Im deutschsprachigen Raum ist es gar nicht einfach gute Einführungs- oder Einstiegsliteratur zu finden. Zum Glück hat Andreas Krebs mit "Gott queer gedacht" diese Lücke im letzten Jahr gefüllt. Krebs geht die großen christlichen Themen Kapitel für Kapitel durch und stellt anhand ihrer jeweils queertheologische Entwürfe und Ansätze dar. Von queerer G*ttesdrede, über G*tt am Kreuz bis zur Queerer Kirche bekommt man einen fundierten querschnittsartigen Überblick über das Feld queerer Theologie, samt anregenden Literaturtipps. (Im Übrigen ziert das Cover von Andreas Krebs Buch ebenfalls eine queere Abendmahlsdarstellung.) Das Buch ist Einsteiger*innenfreundlich geschrieben und auch für nicht-Fachmenschen, aber theologisch Interessierte leicht verständlich. Beide Bücher lassen sich übrigens leicht im Koffer verstauen und gut am Strand oder in den Bergen lesen. 

 

Zum Einstieg

Linn Marie Tonstad, Queer Theology. Beyond Apologetics, Eugene 2018. 

Andreas Krebs, Gott queer gedacht, Würzburg 2023.