La Virgen María – eine Konstruktion zwischen Machismo und Hembrismo.
Buenos Aires. Eine Mischung aus lautem Lachen und dem Duft von selbstgekochtem und mitgebrachtem Essen hängt in der Luft. In der Mitte ein Kreis aus Stühlen, jeder besetzt von einer Frau aus dem Barrio. Eine Szene irgendwo in einem ökonomisch abgehängten Stadtteil. So oder so ähnlich muss es ausgesehen haben während ihrer befreiungspädagogischen Arbeit.
Marcella Althaus-Reid beschreibt, wie sie mit einer Gruppe armer lateinamerikanischer Frauen tief in theologische Diskussionen einsteigt. Ob sie sich mit der Jungfrau Maria identifizieren, fragt Althaus-Reid die Gruppe. "Nein!", antwortet eine, "weil sie teure Klamotten und Schmuck trägt, sie ist weiß und läuft nicht." Eine weiße, reiche und passive Madonnenfigur, damit können sie sich nicht identifizieren. Heilige Weiblichkeitskonstruktion und gelebtes Leben treten verhängnisvoll auseinander. Althaus-Reid nutzt diese Szene als Türöffner für einen kritischen Blick auf Maria und dekonstruiert in ihrer unnachahmlich scharfen Art das Bild der Virgen. Sie beginnt bei den Unterdrückten.
Althaus-Reid öffnet zunächst weit die Türen für die Erfahrungen von Frauen* in Mexiko vor der Conquista, der kolonialen Eroberung und Unterjochung. So entwirft sie eine Vision anhand dessen, was sich über diese Erfahrungswelt rekonstruieren lässt. Althaus-Reid zeigt auf, wie gerade die Jungfrauendarstellung Marias dazu beigetragen hat, ein koloniales Herrschaftssystem zu stabilisieren – das bis heute fatal den Machismo (also die patriarchale Ideologie, die das männliche Verhalten reguliert) und Hembrismo (also der Ort der Weiblichkeitskonstruktion zwischen Heim und Fürsorgearbeit) aufrechterhält. Am Ende lässt uns Althaus-Reid mit Fragen zurück: Lässt sich diese Maria befreien? Wird Maria jemals gehen lernen und hier eine Interpretationsspur legen, die hilft, das körperliche Wissen der Vorfahrinnen wiederzuentdecken?
Im hier skizzierten Aufsatz "When God is a Rich White Woman who does not Walk" bleibt die Frage eigentümlich offen. Was mir in Althaus-Reids späteren Schriften immer wieder begegnet, ist eine anstößige Maria, die die patriarchal-gewaltförmigen und kolonial-herrschaftlichen Strukturen bloßstellt und die gelebten Erfahrungen von FLINTA-Personen zu integrieren vermag. Das war mein erster Gedanke, als mir ein Bekannter kürzlich einen Zeitungsartikel schickte mit den Worten "Althaus-Reid hätte was dazu zu sagen". Wir wechseln die Szene.
Anstößige Maria – gebärend zwischen Krönung und Enthauptung.
Mariendom Linz. Eine weiße Frau sitzt auf einem Stein. Ihr Oberkörper ist nach hinten gelegt, abgestützt nur durch ihre eigenen Arme und Hände. Der schmerzverzerrte Blick geht gen Himmel. Das rote Kleid liegt eng an und zeichnet die Konturen ihres Körpers deutlich ab und geht in einen blau-grünen Saum über, der an die anderen Marienfiguren im Dom erinnert. Das Kleid selbst ist hochgerutscht und gibt den Blick auf die gespreizten Oberschenkel und den prallen Schwangerschaftsbauch frei. Die Anstrengung der Frau zeichnet sich in der Muskelanspannung ab. Ihre offenen braunen langen Haare sind umkränzt von einem goldenen Heiligenschein.
"Crowning" heißt die aus Holz gefertigte Figur der Künstlerin Esther Strauß. Es ist die Darstellung einer gebärenden Maria mitten im Dom. Sie ist optisch den Marienfiguren nachempfunden, die die Künstlerin im Dom schon vorfand. Die weihnachtliche Maria, die neben ihrem Kind kniet und Maria, die mit den drei Heiligen Königen und ihrem Kind dargestellt ist.
Daneben nun eine Maria in Wehen. Die dritte im Bunde, die die Betrachtenden tief mit hineinnimmt in diese Erfahrungswelt der Geburt. Natürlich werde ich hier keine Kurzschlüsse ziehen. Eine Darstellung bedeutet nicht, dass nur Frauen schwanger werden können. Und auch nicht, dass alle Frauen schwanger werden wollen oder können. Das sind eigene wichtige und komplexe Themen. Worum es hier aber geht, ist das Entblößen einer Leerstelle in der Welt anständig gemachter Mariendarstellungen und zwar durch diese realistisch angelegte Geburtsszene. Es ist in Holz geschnitzte anstößige Theologie, eine Indecent Theology, wie Althaus-Reid sie nennt. Dass Indecent Theology eine riskante Angelegenheit ist, wusste Marcella Althaus-Reid nur zu gut.
Patriarchale Gewalt ist ein ganz konkreter Bestandteil weiblich gelesener Körper – realer und repräsentierender. Das hat die gebärende Maria am eigenen Holzleib erfahren müssen. Keine fünf Tage nach Eröffnung der Ausstellung sind ein oder vielleicht mehrere Täter mit Holzsägen in den Dom gekommen und haben die gebärende Maria enthauptet. Nicht einfach nur den Heiligenschein entfernt und so aus der heiligen Mutter in Wehen eine Mutter in Wehen gemacht. Nein, gleich der gesamte Kopf wurde abgesägt. Ein grausamer Akt, den man sich kaum vorstellen mag. Und so stellt diese Maria auch etwas Zweites entblößend zur Schau, was FLINTA-Personen schon lange wissen – die Gewaltbereitschaft innerhalb eines patriarchalen Systems und die damit verknüpften Vorstellungen toxischer und anständiger Theologie(n).
Ich hoffe inständig, dass die Künstlerin und die Verantwortlichen im Linzer Mariendom einen Umgang mit dieser Situation finden, der den Zusammenhang von Gewalt – Patriarchat – Femiziden nicht versteckt, sondern ans Licht holt und gleichzeitig die gebärende, geköpfte Maria aus der Opferrolle emanzipiert und zurück ins Leben holt. Ich hoffe, dass so zwischen den feministischen Protesten seit 2015 in Buenos Aires und dem Linzer Mariendom ein solidarischer Satz ganz deutlich erkennbar wird: Ni una menos!
Mehr zu der Skulptur "Crowning": https://www.dioezese-linz.at/institution/418409/aktuelles/article/270726.html
Ein Interview mit der Künstlerin: https://www.derstandard.de/story/3000000227055/kuenstlerin-zur-gekoepften-maria-ausdruck-patriarchaler-gewaltbereitschaft
Hintergrundinformationen zu Ni una menos: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/femizid-2023/519674/ni-una-menos/
Der ganze Aufsatz von Marcella Althaus-Reid: Althaus-Reid, M., When God is a Rich White Woman who does not Walk: The Hermeneutical Circle of Mariology and the Construction of Femininity in Latin America, Theology & Sexuality, 1994 (1), 55–72.