Ende Juni 2024 habe ich eine spannende, neue Erfahrung gemacht. Ich war eingeladen zu einem einwöchigen Fortbildungskurs an der Ostsee - als Co-Leitung. Das Besondere: Es war ein Exerzitien-Kurs, der Windsurfen mit geistlichen Exerzitien kombiniert und das Ganze erstmalig auch noch aus queerer Perspektive beleuchtet hat. Es war das Format "Surf & Soul", "Queer Edition". Was für eine Power-Triade!
Ich war für den queer-theologischen Teil der Fortbildung dabei und habe mit den Teilnehmenden zu verschiedenen Bibelstellen aus queerer Perspektive gearbeitet. Beschäftigt haben wir uns mit Psalm 139, mit Gottes Ebenbildlichkeit der Menschen im ersten Schöpfungsbericht (Genesis 1,27), mit Jakobs Kampf am Jabbok (Genesis 32,23-32), mit Josephs Lebensgeschichte (Genesis 37 – 50) und mit Ruth und Naomi (Buch Ruth). Dabei haben wir aus queerer Perspektive ganz verschiedene Entdeckungen gemacht und biblische und biographische Geschichten miteinander in Schwingung gebracht.
Es war berührend zu sehen, wie viel die Beschäftigung mit den alten biblischen Geschichten bei vielen der Teilnehmenden auch lebensgeschichtlich ausgelöst hat, wenn Freiräume ohne Bewertung da sind und alle liebevoll und wertschätzend miteinander umgehen. Die Teilnehmenden sind dabei im Laufe der Woche in mehr als nur einer Hinsicht füreinander und miteinander zu queer-sensiblen geistlichen Begleiter*innen geworden.
Im Hinblick auf den Surf-Teil der Fortbildung habe ich persönlich zu kämpfen gehabt. Ich stand mit 61 Jahren zum ersten Mal auf einem Windsurfbrett und musste mich zunächst einmal mit meinen Ängsten und Gleichgewichtskämpfen auseinandersetzen. Das war manchmal ganz schön anstrengend und hat mich weit aus meiner Komfortzone gelockt.
Die Kursleitung und Windsurf-erfahrenden Kursteilnehmer:innen haben mir aber mit Rat und Tat zur Seite gestanden. Diese Erfahrung hat mir gezeigt, wie wechselseitig unterstützend Personen in Gruppen sein können, wenn sie sich gegenseitig respektieren, so wie sie sind. Das hat mich gestärkt und berührt.
Als Theologin, queer-sensible Seelsorgerin und geistliche Begleiterin höre ich den Leuten seit vielen Jahren zu und ermutige sie in ihren Entwicklungsprozessen. Als Surf-Anfängerin konnten die anderen mich als verletzliche Person erleben. Sie haben gesehen, wie ich mit dem wackeligen Brett gekämpft und mir einige blauen Flecke abgeholt habe. Ich habe von ihrer liebevollen Zugewandtheit profitiert, so wie sie in den Morgeneinheiten und Begleitgesprächen über meine Zugewandtheit dankbar waren.
In der Mitte der Woche haben wir im Anschluss an die Beschäftigung mit Jakobs Kampf um Gottes Segen und den eigenen Kämpfen um Anerkennung in der Gruppe einen Segenskreis gebildet und uns mit einem edlen Salböl gegenseitig gesegnet. Da sind viele Tränen geflossen und die ermächtigende Kraft Gottes war deutlich im Raum zu spüren.
Von solchen queer-sensiblen Exerzitien-Kursen für Körper, Geist und Seele sollte es viel mehr geben. Ich bin meiner Kollegin Esther Göbel jedenfalls sehr dankbar für die vielen unterschiedlichen Erfahrungen, die ich in der Woche für mich und mit den anderen zusammen machen konnte.
Im Anschluss an die Woche habe ich Esther Göbel nach ihren Erfahrungen mit dem Format „Surf & Soul“ gefragt. Hier ihre Antworten und Gedanken dazu.
Kerstin Söderblom: Erzähl doch bitte zu Beginn etwas über dich.
Esther Göbel: Ich wurde als West-Kind 1979 in Berlin geboren und habe 1999 als erster Ost-West-gemischter Jahrgang am Canisius Kolleg Abitur gemacht. Die ignatianisch-jesuitische Prägung hat also früh begonnen. Nach dem Theologie-Studium in Münster habe ich 2006 als Pastoralreferentin im Erzbistum Berlin zunächst in der Jugendseelsorge angefangen, später auch als kirchliche Organisationsberaterin gearbeitet und bin seit 2017 mit „Surf & Soul“ in Vorpommern.
Kerstin Söderblom: Du hast das Format "Surf & Soul" erfunden. Wofür steht dieser Titel und wie gehören Surf & Soul zusammen?
Esther Göbel: Ich bin Theologin, systemische Beraterin und Surf-Lehrerin. In „Surf & Soul“ verbinden sich für mich Berufung, Profession und Leidenschaft. Schon früh habe ich bemerkt, dass Surfen — anders als andere Sportarten — eine spirituelle Komponente hat und dachte mir, dass das prima mit ignatianischen Exerzitien zusammenpassen könnte. Nach einer Sabbatzeit habe ich dann mit einem jungen Jesuiten ein Konzept erarbeitet, das Fragen von Prinzip und Fundament meines Lebens, Balance, Umgang mit Druck, Orientierung und Steuerung, Umgang mit Gegenwind etc. sowohl von einer sportlichen als auch von einer geistlichen Perspektive her miteinander in Verbindung bringt.
Kerstin Söderblom: Seit wann surfst du und was bedeutet das Surfen für dein Leben?
Esther Göbel: Ich habe tatsächlich erst mit 30 Windsurfen gelernt. Inzwischen würde ich mich als „Soul-Surferin“ bezeichnen, für die der Sport auch eine Bedeutung in Fragen der Lebensgestaltung, Wertorientierung und in den persönlichen Deutungsmustern hat. Ich habe mit der Zeit eine ganz eigene Surf-Spiritualität entwickelt (davon erzähle ich in meinem Buch!)
Kerstin Söderblom: in der letzten Woche "Surf & Soul" war die "Soul-Time" aus queerer Perspektive gestaltet. Wie bist du auf die Idee gekommen, die queere Perspektive mit hineinzunehmen und was bedeutet diese Perspektive für dich?
Esther Göbel: Queer bedeutet für mich in erster Linie „vielfältig / divers“ (vielleicht im besten Wortsinn von „katholisch“ = allumfassend?). Es gibt mehr als eine Deutungsperspektive von Bibelgeschichten, kein richtig und falsch, sondern jeder Mensch liest sie vor seiner eigenen Lebensrealität. Und da sagt mir die eine Geschichte mehr als eine andere, das ist normal. Aber es gibt eben auch in der Bibel schon mehr als das klassisch heteronormative und monogam ausgeprägte Mann-Frau-Schema. Da gibt es homoerotische, polygame und nicht-binär gedachte Erzählstränge. Auch wenn diese traditionell in der Kirche eher verschwiegen werden.
Und auf die Idee für eine „queer edition“ vom Surf-Kurs mit Tiefgang hat mich vor einem Jahr ein Kursteilnehmer gebracht. Ich höre gern auf die Wünsche meiner Teilnehmenden!
Kerstin Söderblom: Was sind deine Highlights aus der Woche?
Esther Göbel: Highlights (oder in meinem Kursjargon „Magis-Momente" genannt) waren für mich die Menschen mit ihrer je eigenen Lebensgeschichte, ein extrem ausgeprägter wertschätzender Umgang untereinander, Sonnenschein, Surf-Erfolge, aber auch persönliche Meditationserfahrungen, die meinen eigenen Horizont noch mal erweitert haben. Und natürlich eine wunderbare Co-Leitung :-)
Kerstin Söderblom: Wirst du diese Kombination noch einmal anbieten?
Esther Göbel: Das habe ich noch nicht entschieden. Aber ich höre ja wie gesagt auf die Wünsche von Teilnehmenden: also wahrscheinlich ja.
Kerstin Söderblom: Hast du als queere Person, die in der Kirche arbeitet, eine Forderung und/oder einen Wunsch für die Zukunft?
Esther Göbel: Forderungen habe ich viele — die werden bisher nur leider nicht erhört.
Ich wünsche mir in erster Linie respektvollen Umgang und nicht immer wieder die Deklassierung als Menschen mit angeblich gleicher Würde, aber auf jeden Fall weniger bis keinen Rechten. Ich wünsche mir die Abkehr vom Vorwurf der Ideologie und eine gleichwertige Anerkennung von Partnerschaften und Lebensentwürfen, nicht nur für queere Personen, sondern auch für die, deren Partnerschaften gescheitert sind oder in irgendeiner Weise nicht den katholischen Regeln entsprechen. Aber angesichts der aktuellen politischen Lage wünsche ich mir dieses Umdenken nicht nur innerhalb der Kirchen, sondern gesamtgesellschaftlich. Wenn sich die Kirchen pro LGTBQIA* engagieren würden, könnten sie so viel mehr Menschlichkeit auf der ganzen Welt bewirken — leider bestärken und rechtfertigen sie vielerorts eher das Gegenteil.
Zum Weiterlesen: