Merken wir, wie schnell sich die Welt verändert? Informationen prasseln über eine Vielzahl von medialen Kanälen in immer schnellerer Folge auf uns ein. Ich habe den Eindruck, dass es für viele dadurch immer schwieriger wird, die Erinnerung an Wesentliches zu bewahren. Aber nur so, wenn wir uns an Meilensteine der Geschichte erinnern, können wir wahrnehmen und vielleicht auch verstehen, wie und warum diese sich verändert. Veränderung bricht dann nicht mehr über uns herein, wirkt nicht mehr bedrohlich, sondern ist ein geschichtlicher Prozess, den ich, den wir bewusst mitgestalten können, indem wir die Geschichten unserer Geschichte erzählen.
Wer also erinnert sich (noch) daran, dass es gerade einmal gut fünfzig Jahre her ist, dass Sexualität zwischen Männern jeglichen Alters nicht mehr als Straftatbestand gilt? Und sogar erst dreißig Jahre, dass sexueller Missbrauch gleichgeschlechtlicher Art strafrechtlich nicht mehr anders bewertet wird als gegengeschlechtlicher Art? Bis 1994 war der "Schwulenparagraph" § 175 StGB aktiver Bestandteil des bundesdeutschen Strafrechts – bis 1969 in der durch die Nationalsozialisten geschaffenen Fassung, die jegliche Art von sexuellem Kontakt zwischen Männern unter Strafe stellte, seit 1973 dann "nur noch" als Schutzparagraph gegenüber Männern unter 18 Jahren (während das Schutzalter für heterosexuelle Kontakte bei 16 Jahren lag).
30 Jahre nach dem Ende des § 175 hat sich eine bunte und vielfältige queere Szene etabliert, die wir in diesen Wochen wieder bei vielen Pride-Veranstaltungen erleben können. Schon ein Jahr nach der "Entschärfung" des § 175 hat sich in München der Münchner Löwenclub (MLC) gegründet, ein Verein, in dem sich schwule Fetisch-Männer zusammenfanden und zusammenfinden. Der Fetisch der ersten Jahre war eindeutig, es dominierte Leder – heute findet sich die Vielfalt des Fetisch (von Leder über Rubber und Neopren bis Pup-Play) auch unter den Mitgliedern des Vereins und in der Vielzahl seiner Veranstaltungen.
Das fünfzigjährige Jubiläum nutzt der Verein zu einer Erinnerung an die Geschichte der Schwulenbewegung und der schwulen Fetischszene. Der ehemalige Vereinsvorstand Thomas Tetzner hat mit "Spielen am Rand" keine gewohnt langweilige Festschrift produziert, sondern lässt fünfzig Jahre Geschichte durch persönliche Geschichten sichtbar und erlebbar werden: 50 Interviews mit Männern der Jahrgänge 1940 bis 2000 stehen im Mittelpunkt des Buches. Sie geben Auskunft über ihre schwulen Fetisch-Identitäten, ihre Partnerschaften und alle bedeutenden Strömungen der Szene: Stiefel, Jeans und Leder, Uniform, Gummi und Neopren, Workwear, Punks & Skins, Motocross, Lycra, Sneakers, Sports & Scally, Age, Pet & Cos Play und vieles mehr.
Ergänzt werden die im Buch abgedruckten Interviews durch Bilderserien verschiedener Künstler (u.a. Tom of Finland, der für dem MLC ein exklusives erstes Werbebild entworfen hat) und durch Beiträge zur Entwicklung der Szene. Es erinnert auf diese Weise an den Kampf um die Entkriminalisierung in den 60er-Jahren, an die sexuelle Revolution in den 70ern, an den Schrecken von HIV und Aids in den 80ern und die neuen Aufbrüche in den 90ern. Auch die aktuellen Veränderungen in der queeren Szene wie die Virtualisierung von Lebenswelten oder die Diversifizierung und der Wandel queerer Identitäten kommen deutlich in den Blick.
"Gedenke der vorigen Zeiten und hab acht auf die Jahre von Geschlecht zu Geschlecht." (5. Mose/Dtn 32,7). Gedenken und Erinnern spielen eine zentrale Rolle im Glauben und Leben des biblischen Gottesvolkes. Die ältesten Bekenntnistexte der Bibel erinnern an die Geschichte des Gottesvolkes: "Mein Vater war ein Aramäer, dem Umkommen nahe, und zog hinab nach Ägypten und war dort ein Fremdling mit wenig Leuten und wurde dort ein großes, starkes und zahlreiches Volk. Aber die Ägypter behandelten uns schlecht und bedrückten uns und legten uns einen harten Dienst auf. Da schrien wir zu dem HERRN, dem Gott unserer Väter. Und der HERR erhörte unser Schreien und sah unser Elend, unsere Angst und Not und führte uns aus Ägypten mit mächtiger Hand und ausgerecktem Arm und mit großem Schrecken, durch Zeichen und Wunder, und brachte uns an diese Stätte und gab uns dies Land, darin Milch und Honig fließt." (5. Mose 26/Dtn 26,5-9). Das Pessach-Fest ist der Moment, an dem diese Erinnerung Jahr für Jahr lebendig gehalten wird. Die Erinnerung daran, selbst Flüchtling und unterdrückt gewesen zu sein, wird zur Verpflichtung, das Lebensrecht anderer zu achten und zu fördern: "Einen Fremdling sollst du nicht bedrücken und bedrängen; denn ihr seid auch Fremdlinge in Ägyptenland gewesen. Ihr sollt Witwen und Waisen nicht bedrücken. Wirst du sie bedrücken und werden sie zu mir schreien, so werde ich ihr Schreien erhören." (2. Mose/Ex 22,20-22)
"Eigentlich gar nicht so lange her" oder "Wahnsinn, wie der sich den Weg in ein selbstbewusstes, offenes Leben erkämpft hat" – das waren meine Reaktionen beim Lesen der Lebensgeschichten von "Lohengrin" oder Hartmut Otto, Männern, die ihr Coming-out deutlich vor mir, noch in der Zeit des "scharfen" § 175, gehabt haben und schließlich zu Pionieren der jungen schwulen Szene in den 80er Jahren geworden sind. Von Dieter Weissenborn zu hören, dass ihm die Ärzte in den 1980er Jahren keine fünf Jahre Überlebenschance mehr gegeben haben angesichts seiner HIV-Infektion, erinnert mich an die vom Tode gezeichneten Männer, die ich bei Prides oder schwulen Sportveranstaltungen der späten 80er und frühen 90er Jahre erlebt habe. Dieter mit seinem oft zynischen Witz auch heute noch erleben zu können, macht mich dankbar für die Fortschritte der Medizin und der HIV-Forschung – und auch ein wenig stolz auf die Solidarität, die unsere Community in all den schweren Jahren des Lebens mit dem Virus entwickelt hat.
Beim Lesen der Geschichten der Jüngeren wie Christoph Fichtelmann freue ich mich über die Selbstverständlichkeit, mit der sie ihren Coming-out leben konnten, und die Lebendigkeit, mit der sie über ihre Form von Fetisch erzählen. Das war lange nicht selbstverständlich – und diese so ganz verschiedenen Lebensgeschichten in diesem Buch direkt nebeneinander zu sehen und zu lesen mahnt mich, mahnt uns, dass es auch wieder anders werden kann: Gender-Politik und queeres Leben sind eines der Lieblingsfeindbilder von rechtspopulistischen und rechtsextremistischen Parteien und Gruppierungen! Deswegen ist es gut, unserer eigenen Geschichten zu gedenken und sehr wach darauf zu achten, was in unserer Zeit gerade geschieht! Wehret den Anfängen, steht auf für die Vielfalt des Lebens – die Pride-Weeks sind ein guter Moment dafür!