Emmaus, Coming-out, Ostern, neues Leben
Coming out als Teil der Jesus-Bewegung. Auf dem Weg nach Emmaus...
Die Geschichte von Kleopas und seiner Begleitung auf dem Weg nach Emmaus (und zurück nach Jerusalem) kann als Coming-out Geschichte der Jesus-Bewegung gelesen werden, meint Wolfgang Schürger.

Drei Tage nach Ostern. Nach Kreuzigung und Auferstehung Jesu waren das für die Jünger:innen Tage, in denen sie eine emotionale Berg- und Talbahn zwischen tiefer Verzweiflung und neuer Hoffnung erlebten. Tage, in denen sie sich neu sortieren mussten: zurück ins alte Leben oder ganz neu beginnen.

Die Geschichte von Kleopas und einer weiteren, nicht näher genannten Person aus dem Kreis der Jünger:innen, die sich beide auf den Weg zurück in ihr altes Leben, in ihr Heimatdorf Emmaus machen, wird jeden Ostermontag als Evangelium gelesen (Lk 24,13-35). Aus einer queeren Perspektive gelesen, ist es eine urchristliche Coming-out Geschichte (freilich ohne den sexuellen Kontext):

Kleopas gehörte nicht zum engsten Kreis um Jesus, aber wie seine Begleitung (ist es seine Ehefrau, jemand aus der Familie oder ein:e gute:r Freund:in - Lukas konkretisiert das nicht), war er die ganze Zeit mit Jesus zusammen. Beide hatten gespürt, dass da etwas Neues, Lebendiges anbricht - etwas, für das es sich lohnt, das alte Leben aufzugeben. Doch alle ihre Hoffnungen sind mit der Kreuzigung Jesu zerbrochen. Einige der Frauen um Jesus haben ihnen zwar noch wirr erzählt, dass Jesus lebt, aber das scheint ihnen jetzt illusionär. Also lieber zurück in die Heimat, zurück in das alte Leben - in der Hoffnung, dass die Menschen in Emmaus nicht allzu viel von ihren Eskapaden in Galliläa und Jerusalem mitbekommen haben. Zurück in den unauffälligen Alltag, bevor die jüdischen und römischen Autoritäten auf die Idee kommen, dass auch sie beide etwas mit dieser provokanten Jesus-Bewegung zu tun haben.

Auf dem Weg von Jerusalem nach Emmaus haben die beiden Zeit, ihre Wunden zu lecken, sich noch einmal vor Augen zu führen, was sie in den letzten Tagen alles Irritierendes erlebt haben, vielleicht auch, sich es zurechtzulegen, wie sie jetzt in Emmaus wieder in den Alltag zurückkehren können. Ein einsamer Wanderer kreuzt ihren Weg, gesellt sich zu ihnen und mischt sich in ihre Gespräche ein. Er nimmt ihre Resignation wahr (oder ist es sogar Verzweiflung?) und zeigt ihnen, dass man die Ereignisse der letzten Tage von den Heiligen Schriften her auch ganz anders interpretieren kann.

Es ist schon Abend, als die drei Emmaus erreichen, und Kleopas und seine Begleitung bestehen darauf, dass der Dritte die Nacht bei ihnen verbringt. Vielleicht ist das nur Gastfreundschaft (der Weg in der Nacht ist gefährlich), vielleicht ist es aber auch das Gefühl, dass dieser Dritte ihnen gutgetan hat, weil er plötzlich eine neue Perspektive eröffnet. Dass es der Auferstandene selbst ist, wissen sie bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Erst beim gemeinsamen Essen, als der Dritte wie Jesus in all den Wochen und Monaten vorher das Brot nimmt, das Dankgebet spricht und das Brot bricht, da erkennen sie, wer mit ihnen auf dem Weg war. In diesem Moment verschwindet Jesus.

Für Kleopas und seine Begleitung aber ist in diesem Moment klar: Unser Platz ist nicht in Emmaus, nicht hier im alten Leben, unser Platz ist in Jerusalem, bei der neuen Bewegung, die Jesus mit uns begonnen hat. Die Schrecken der Nacht schrecken sie nicht mehr, gleich nach dem Essen brechen sie auf, zurück nach Jerusalem, um dort nun auch zu bezeugen, dass Jesus lebt und ihnen ganz nahe war.

Mutig wagen Kleopas und seine Begleitung den neuen Weg - und darin lassen sich viele Momente eines Coming-outs wiederfinden. Immer noch ist das ja Realität für Menschen auf der Suche nach ihrer sexuellen Identität: Sie probieren sich aus, sie finden erste Freiräume, in denen sie so sein können, wie sie eigentlich sind - und plötzlich wird der Druck zu groß. Im Freundeskreis sind alle verheiratet, die ersten Kinder sind unterwegs - und man möchte dazugehören, ja selbst auch Verantwortung für eine nachfolgende Generation übernehmen. Die eigenen Eltern reden auch schon so viel von den künftigen Enkeln... Oder es sind die Kommentare über queere Lebensformen, die in der Arbeit oder im Sportverein immer wieder zu hören sind und die Angst aufkommen lassen, nach einem Outing selber ausgegrenzt zu werden. Oder, oder, oder... Queeres Leben ist sichtbarer geworden, selbstverständlich aber ist es in allen Teilen unserer Gesellschaft noch nicht - und deswegen ist ein Coming-out immer noch ein Wagnis.

Gut, in so einer Situation miteinander auf dem Weg zu sein! Doch auch auf so einem gemeinsamen Weg des Coming-outs kann es dann noch Momente geben, in denen beide zu dem Ergebnis kommen, dass es jetzt nicht weiter geht, und zurück wollen in das alte Leben. Wie gut, wenn dann eine dritte Person dazu kommt, mit der man all die Ängste oder deprimierenden Erfahrungen noch einmal besprechen und aus einer anderen Perspektive sehen kann.

Ein gemeinsames Essen freilich - wie in Emmaus - wird dann kaum der dritte, befreiende Schritt sein. Aber vielleicht wird diese dritte Person zur Türöffnerin, um noch einmal anders in die queere Community hineinzukommen. Eine Person, die mir die Schwellenangst vor bestimmten Clubs nimmt, einer Person, die mich in Gruppen mitnimmt, in denen ich ungezwungen und authentisch meine sexuelle Identität leben kann - anders, als ich das vorher erlebt habe. Solche positiven Begegnungen nehmen mir dann die Angst vor den Schrecken der Nacht, machen mir Mut, den Weg des Lebens weiter zu gehen, Emmaus und den alten Alltag hinter mir zu lassen und Neues zu wagen. Und womöglich gesellt sich ab und zu der Auferstandene zu mir und sagt: "Schau mal, so geht neues Leben!"