Ich komme aus Bielefeld. Ich bin dort aufgewachsen und zur Schule gegangen. Dort habe ich mich das erste Mal so richtig verliebt und hatte auch mein erstes Coming-out. Wir Bielefelder:innen teilen ein Schicksal jenseits unserer Stadtgrenzen: Es gibt wohl keine Vorstellungsrunde, kein Partygespräch, in dem nicht mindestens einmal der Satz fällt "Bielefeld? Das gibt’s doch gar nicht!" (in der Regel gefolgt von "Ha, das hörst du bestimmt voll oft!"). Ich kann die Sache mit Humor nehmen. Mein Aufwachsen in Bielefeld ist aber nicht das Einzige, das die Reaktion "Das gibt’s doch gar nicht!" auslöst. Ich komme nicht nur aus Bielefeld, ich bin zudem geschlechtlich nicht-binär. Und weil in unseren Schulbüchern dieses Phänomen bisher nicht auftaucht, wird mir regelmäßig unterstellt, ich hätte mir da etwas ausgedacht. Die Begründung variiert dabei. Entweder wird mir unterstellt, ich hätte im Biounterricht nicht ordentlich aufgepasst oder ich wäre einem "Genderwahn" auf dem Leim gegangen oder kapitalistischen Strukturen mit ihrer Hyperfixierung auf die persönliche konsumförmige Identität. Ersteres ist schlichtweg unterkomplex, zweiteres fällt in den Bereich gefährlicher rechter Rhetorik und letzteres ist eine linke Kritik, der ich durchaus etwas abgewinnen kann, die hier aber einfach zu kurz greift.
Nicht-binär-Sein hat zunächst etwas mit dem eigenen Selbstverhältnis zu tun, und zwar schlicht mit dem Phänomen, dass man sich mit dem bei der Geburt zugeschriebenen Geschlecht nicht identifizieren kann. Dabei ist Geschlechtszuschreibung kein einmaliger Akt, sondern eine tagtägliche, normierende Wiederholung. Das heißt für mich, dass ich mir diese Zuschreibung nicht in versöhnender und/oder emanzipativer Weise für mein Selbstverhältnis aneignen kann. Es bleibt ein ständiges Unpassenheits- und Irritationsempfinden zurück, das sich bis in einen manifesten Leidensdruck steigern kann. Und weil unsere kapitalistische Gesellschaft nun mal so geschlechtlich strukturiert ist, wie sie ist, ist diese Irritation ein dauerhafter Stressor. Das kann ich anderen erklären, aber schlichtweg nicht andemonstrieren.
Wie tief das Angefragt-Werden der eigenen Geschlechtsidentität geht, zeigt folgendes Beispiel gut: Nicht selten werden – in meiner Erfahrung – nicht-binären Personen, die aber weiblich gelesen werden, in vulnerablen Kontexten (wie Beratungsgesprächen oder therapeutischen Settings) kritisch gefragt: Hat das eigene Unbehagen mit der Geschlechtsidentität seine Wurzel nicht eigentlich in einer (unaufgearbeiteten) Internalisierung patriarchaler Strukturen und der damit einhergehenden internalisierten Ablehnung von Weiblichkeit? Dieser Hinweis ist insofern ernst zu nehmen, als dass patriarchale Strukturen und die Ablehnung dessen, was wir als weiblich markieren, reale gesellschaftliche Erfahrungen sind. Desgleichen muss man aber hinzufügen, dass dieser Hinweis eben auch nur das ist – ein Hinweis und keine ausreichende Erklärung. Ich bewege mich seit gut 15 Jahren in feministischen Kreisen. Ich habe viele Mitstreiterinnen und Genossinnen, die ein empowerndes Verhältnis zu ihrer Weiblichkeit beziehungsweise ihrer Zuschreibung von Frau-Sein gefunden haben und von hier aus emanzipatorische Kämpfe führen. Und auch ich habe Zeit und Muße darauf verwendet, die geschlechtlichen Konstruktionen und Wertungen zu dekonstruieren und zu reflektieren. Das löst den oben beschriebenen Stress und die Irritation im Selbstverhältnis aber nicht auf. Und spätestens hier erreicht der Hinweis eine Grenze.
Wenn ich mit "Frau Thomaier" angesprochen werde, bereitet mir das Unbehagen, und zwar nicht, weil ich Weiblichkeit per se abwerte (oder das nicht ordentlich feministisch reflektiert hätte). Wenn ich mit "Frau Thomaier" angesprochen werde, ist das beste Bild, was ich dafür habe, ein Paar zu enge Schuhe, in denen man zwar irgendwie laufen gelernt hat, die aber schmerzlich nicht passen wollen. Und das lässt sich auch nicht zurechtreflektieren. Die Bezeichnung als nicht-binär hilft also erst einmal Luft zu holen im Selbstverhältnis, weil es einen Freiraum schaff. Und wenn ich hier von "es fühlt sich nicht richtig an" oder "es bereitet mir Unbehagen" spreche, dann meine ich jene komplexe Mischung aus Emotion, Reflexion und sprachlicher Konfiguration, die ich oben versucht habe anzudeuten. Darum ist die höhnische Behauptung, dass sich demnächst jemand als Kühlschrank oder Sofa identifizieren könne, nur weil man sich so fühle, so falsch wie schädlich.
Wenn ich mich als nicht-binär vorstelle, passiert aber noch etwas anderes. Ich verkörpere eine Irritation. In der Regel erkennt man das entweder an Fragen (Was heißt das denn: nicht-binär? Wie gehe ich jetzt damit um? Was ich darf ich sagen und was nicht? Wie spreche ich dich jetzt korrekt an?) oder es begegnet mir in empörten Äußerungen (Aber biologische Geschlechter, die gibt es halt doch!). Während sich die Fragen zumindest gut im Dialog ausloten lassen (und für ein gelingendes Miteinander nicht unwesentlich sind), liegt in der ausgelösten Irritation aber auch eine Pointe. Nicht-binär, das gehört zum weiten Feld queerer Praxis (und in meinem Fall queerer Theologie). Und queering ist in ihrer besten Form an sich eine kritische, eine anstößige, eine riskante Praxis. Sie destabilisiert das Normale und gut Sortierte in unseren Gender- und Körperschubladen. Sie legt offen, welche Körper an was und wie teilhaben (dürfen) und welche nicht. Sie deckt auf, wer hinter verschlossenen Türen die unbezahlte Arbeit macht, wer Arbeit gegen Lohn tauschen muss und wer von beidem profitiert. Und das alles ist – im besten Fall – nicht der Zielpunkt eines queeren Ansatzes, sondern der Ausgangspunkt der Frage, wie wir zukünftiges Zusammenleben und die notwendigen sozialen Transformationen gestalten wollen und können.
Darauf habe ich Lust, in meinen Blogbeiträgen weiter nachzudenken. Ich kann nicht versprechen, dass man Bielefeld dadurch besser kennen lernen wird, aber dafür erlebt man vielleicht den ein oder anderen produktiv irritierenden "Das gibt’s doch nicht!"-Moment.