Eigenlich bin ich ein sehr optimistischer, zukunftsoffener Mensch - und glaube auch, dass der christliche Glaube zutiefst mit solch einer positiven Haltung verbunden ist. Schließlich bekennen wir Gott doch als einen Gott des Lebens und nicht des Todes und hoffen auf die gute Zukunft seines Reiches. Und wir vertrauen darauf, dass Gottes Geistkraft jetzt schon Zeichen dieses Reiches zum Vorschein bringt.
Doch ich gestehe, dass ich in den letzten Monaten zum ersten Mal richtig Zukunftsangst gehabt habe: Der Krieg in der Ukraine und der Konflikt in Israel/Palästina scheinen jederzeit eskalieren zu können, hier in Deutschland setzt eine angeblich der Freiheit verpflichtete Partei alles daran, Zukunftsinvestitionen zu blockieren und frustrierte Bäuerinnen und Bauern hängen die Ampelregierung - wenn nicht gleich das gesamte demokratische System - gut sichtbar an den Galgen. Und dann kommt noch die Enthüllung über das Geheimtreffen von Neonazis, AfD- und CDU-Politikern, bei dem über die "Remigration" Nicht-Bio-Deutscher fantasiert wurde.
Seit mehr als fünf Jahren bin ich mit einem Afrokolumbianer verheiratet. Sollte die Partei einer in der Schweiz mit ihrer Frau und Kind als Migrantin lebender Lesbe tatsächlich die Pläne des Potsdamer Treffens umsetzen wollen, wären wir vermutlich eines der ersten Paare, die davon betroffen wären! Wir haben in der letzten Zeit ernsthaft über eine Escape-Strategie nach Kolumbien nachgedacht ...
Da tat es in der letzten Woche richtig gut zu sehen, wie viele Menschen durch dieses Geheimtreffen in Potsdam nun aufgewacht und für eine offene, vielfältige und freie Gesellschaft auf die Straße gegangen sind. Die schweigende Mehrheit wird laut - und das ist gut so! Regenbogenfahnen habe ich in der Berichterstattung aber eher selten gesehen ... Sollten wir Queers also etwa noch schlafen, uns in Sicherheit wiegen? Das wäre fatal!
Wir haben uns gut eingerichtet in den Bürger:innenrechten, die wir uns in den letzten Jahrzehnten erkämpft haben. Aber vergessen wir nicht, wie schnell Minderheiten wie wir diese wieder verlieren können: Die deutsche Gesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts war bunt und vielfältig, doch 1920 wurde in München eine Partei gegründet, die mit dieser Vielfalt bald gründlich aufräumen sollte. Nach Hitlers gescheitertem Putsch vom 9. November 1923 wurde die Partei zunächst verboten, doch nach der Weltwirtschaftskrise kam sie ab 1930 nur umso stärker zurück. Der Rest der Geschichte ist hinlänglich bekannt, die Opferzahlen aus der queeren Community auch.
Geschichte wiederholt sich nicht einfach - aber der Blick hundert Jahre zurück, macht doch nachdenklich, wenn manche jetzt meinen, dass mit einem Verbot der AfD alles erledigt sei. Das Mindset der Anhänger:innenschaft bleibt. Ob dieser durch die großen Teilnehmer:innnenzahlen der Demonstrationen hinterfragt oder gar verändert wird, wird unter Gesellschaftswissenschaftler:innen in diesen Tagen gerade intensiv diskutiert. Der "inner circle" lässt sich dadurch vermutlich nicht beeindrucken. Sympathisant:innen jedoch zeigen wir mit dieser großen Präsenz, dass sie nicht Teil der Mehrheit sind, sondern die Mehrheit in diesem Land für eine offene Gesellschaft bereit ist zu kämpfen.
Die Herausforderung ist, diesen Kampf trotz aller Diffamierungen und Drohungen gewaltfrei und mit der Kraft des Wortes zu führen. Ja, es ist schwer, sachlich zu bleiben in einer Diskussion, in der mein Lebensrecht oder das Lebensrecht meines Partners, meiner Partnerin in Frage gestellt wird. Eine offene Gesellschaft muss es aber schaffen, ihren Feinden klare Grenzen zu setzen und doch zugleich die Person des Gegenübers zu respektieren.
Vom Deutschen Bundestag ging für mich dann Ende letzter Woche übrigens ein starkes Signal aus: Mit der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts hat die Mehrheit des Parlaments ein deutliches Signal gesetzt für eine offene, vielfältige Gesellschaft. Den Einbürgerungsantrag meines Mannes können wir nun bald weiter vorantreiben, weil er endlich nicht mehr seine kolumbianische Staatsbürgerschaft aufgeben muss.