Ende des letzten Jahres haben zahlreiche queere Organisationen einen gemeinsamen Offenen Brief publiziert, in dem eine kritische Halbzeitbilanz der Regierungskoalition aus SPD, Grünen und FDP gezogen wurde. Unterzeichnet ist er auch vom Katholischen LSBT+ Komitee, der HuK – Ökumenische Arbeitsgruppe Homosexuelle und Kirche e.V. und OutInChurch e.V. – Für eine Kirche ohne Angst.
Ich bin mir nicht sicher, ob dieser Offene Brief in der Öffentlichkeit groß zur Kenntnis genommen wurde. Ich habe ihn zunächst auch nicht wirklich beachtet. Nicht, dass mir die Forderungen nicht wichtig erschienen. Auch ich war enttäuscht, dass es mit Themen wie dem Selbstbestimmungsgesetz nicht voranging, gepaart mit der Sorge, dass angesichts eines befürchteten gesellschaftlichen Rückschlages der versprochene queerpolitische Aufbruch endet, bevor er richtig begonnen hat. Wichtige Vorhaben wie die Reform des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) werden verschleppt. Aber irgendwie verschwand der Brief bei mir – und wohl auch bei anderen – schnell wieder in der Versenkung. Habe ich ihn zu sehr als routiniertes Geplänkel abgetan? Eine Online-Petition, die sogar von einer "Sabotage von Queerpolitik in Deutschland" sprach, hat bislang nicht die intendierte Zahl von 5000 Unterstützer:innen gefunden.
Nun aber kam mir ein Punkt, den der Offene Brief als wichtig bezeichnet, aber eher am Ende platziert hat, wieder ins Bewusstsein. Es wird an die Forderung erinnert, den Schutz der sexuellen wie der geschlechtlichen Identität im Grundgesetz zu verankern - und zwar im Artikel 3, der die Gleichheit vor dem Gesetz formuliert; konkret im Absatz 3 des Artikels, der bislang lautet:
"Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden."
Die Ergänzung um die sexuelle Identität tauchte 2009 als Forderung der queeren Community, unter anderem bei CSD-Demonstrationen, auf; im Koalitionsvertrag der Ampelregierung von 2021 heißt es explizit:
"Wir wollen den Gleichbehandlungsartikel des Grundgesetzes (Artikel 3 Absatz 3 GG) um ein Verbot der Diskriminierung wegen sexueller Identität ergänzen und den Begriff ‚Rasse‘ im Grundgesetz ersetzen."
Die derzeitige gesellschaftlich-politische Lage verleiht dieser Forderung und dem Versprechen der Regierung eine neue Brisanz. In aktuellen Debatten geht es darum, wie unser demokratisches System gegen Parteien gesichert werden kann, die zumindest in Teilen vom Verfassungsschutz als "gesichert rechtsextrem" eingestuft werden. Konkret, in welcher Weise eine Einflussnahme einer erstarkenden AfD auf Verfassungsgerichte verhindert werden kann. Es wird befürchtet, dass sie etwa in Landtagen wie Thüringen so stark vertreten sein könnte, dass sie Benennungen von Richterinnen und Richtern der Landesverfassungsgerichte durch eine Sperrminorität blockieren und dadurch letztlich Einfluss gewinnen könnte. Allgemeiner wird inzwischen diskutiert, ob unser höchstes Gericht, das Bundesverfassungsgericht, gegen Vereinnahmungsversuche von Kräften, die eigentlich das demokratische System abschaffen wollen, geschützt werden muss. Länder wie Ungarn oder Polen unter der PiS-Regierung sind unrühmliche Beispiele, wie das Justizsystem unter Kontrolle gebracht werden kann. Wenn das Rechtssystem und unsere Grundrechte von antidemokratischen Kräften geschleift werden, dann sind unter den ersten Betroffenen stets auch Homo-, Bi-, Transsexuelle.
Der Offene Brief erinnert an einen wichtigen historischen Hintergrund:
"Artikel 3 wurde seinerzeit geschrieben, um die Opfergruppen der Nazi-Verfolgung vor erneuter Diskriminierung und Gewalt zu schützen. Sowohl der Bundestag als auch der Bundesrat müssen nun ein Zeichen setzen, dass auch für die im Nationalsozialismus verfolgte Gruppe der LSBTIQA*-Personen gilt: Nie wieder!"
Die Hürden für eine Änderung eines Grundgesetzartikels sind hoch. Eine Zweidrittelmehrheit ist sowohl im Bundestag als auch im Bundesrat erforderlich. Die Ampelkoalition wäre auf die Stimmen der Union angewiesen. Die lehnt ab. Doch unter den Konservativen finden sich auch prominente Unterstützer wie Kai Wegner, der Regierende Bürgermeister Berlins, oder Hendrik Wüst, der Ministerpräsident von NRW – sie wären zu einer Ergänzung bereit. (Berichte bei queer.de hier und hier.)
Es wäre also ein starkes Zeichen, wenn der Artikel 3, Absatz 3 des Grundgesetzes endlich, nach so vielen Jahren und dem gegebenen Versprechen, um sexuelle/geschlechtliche Identität ergänzt werden würden. Es wäre mehr als nur Symbolik, es wäre eine Verankerung, die sich auch in stürmischen Zeiten nicht so leicht lösen würde. Dass jeder demokratische Grundgesetz-Artikel dennoch mit Leben erfüllt und im konkreten Miteinander umgesetzt werden muss, diese Herausforderung bliebe unverändert bestehen.
Wir sollten, gern mit Unterstützung der Kirchen und mit starkem Engagement der christlichen Gruppen, die den Offenen Brief unterzeichnet haben, einer alten Forderung der queeren Community eine neue Dringlichkeit verleihen. Es ist höchste Zeit.
Link: Offener Brief „Zwei Jahre queerpolitischer Aufbruch im Koalitionsvertrag – Vorhaben droht zu scheitern“ (PDF auf Internetseite des Lesben- und Schwulenverbandes LSVD)