Spaziergang am Neujahrstag, diesem Tag zwischen "war schon" und "ist noch nicht". Ich schlenderte ohne klares Ziel vor mich hin, als ich plötzlich vor einer kleinen Gartenanlage stand. Ich kannte sie schon und das darin befindliche Labyrinth. Dass ich nun ausgerechnet an diesem Tag hier vorbeikam, schien mir aber besonders passend. Ich betrat es, schritt den sich windenden Steinpfad ab, verweilte in der Mitte, um mich dann umzudrehen, den Rückweg anzutreten und es wieder zu verlassen. Hatte ich nicht mal irgendwo gelesen, Labyrinthe dienten letztlich der Selbstfindung und der inneren Klärung?
Zu Beginn des Jahres ist wenig geklärt – nicht in meinem persönlichen Leben, nicht in unserer Gesellschaft, nicht in der queeren Community. So kommt es mir jedenfalls vor. Trotzdem geht vieles zugleich seinen gewohnten Gang – im Gottesdienst, am Arbeitsplatz, in der Szene. So kommt es mir jedenfalls vor. Business as usual trifft auf Situationen des Umbruchs, auf „Dauerkrisen“, auf eher düstere Ahnungen, etwa was die politische Lage in Deutschland angesichts der in diesem Jahr bevorstehenden Landtagswahlen angeht.
Wie wenig geklärt ist selbst im Umgang der Menschen untereinander, das wurde mir bei einer Tagung Anfang Dezember ansichtig. Um das Thema Klassismus – also um die Diskriminierung von Menschen aufgrund ihres sozialen Status, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht (Klasse) – in einer queeren Perspektive ging es alsbald nur noch am Rande. Binnen eines Tages kochten Vorwürfe hoch, es seien menschenfeindliche Äußerungen gefallen, klare Positionierungen dagegen unterblieben, sodass die Tagung ob der sich entladenden Wut kurzzeitig gesprengt wurde. Selbst das Wort „höflich“ auf einer im Flur ausgehängten Liste mit Verhaltensregeln für die Zeit des Aufenthaltes wurde plötzlich als hinterhältiger Versuch, Kritik zum Schweigen zu bringen, „entlarvt“ und kurzerhand zu „friedhöflich“ umgedeutet, dem es sich zu widersetzen gelte. Kurz: Mein Bild der trauten queeren Community, die sich untereinander fürsorglich begegnet, bekam einige Risse.
Eigentlich bot das Thema einen Ansatz, Formen der Benachteiligung und ihre Folgen für den Einzelnen wie für Gruppen sowie Strategien dagegen herauszuarbeiten (und einige der Vorträge taten dies auf informative Weise und über sie wird an anderer Stelle noch zu berichten sein). Stattdessen wurde mir plötzlich klar, dass selbst das grundlegende Miteinander inzwischen so fragwürdig geworden ist, dass man der nicht wirklich neuen und vielleicht auch üblichen Zerstrittenheit der queeren Community noch nicht einmal gerecht wird, wenn man die alte Vorstellung der einen Community aufgibt und die Pluralität, also queere Communities, betont. Aktuelle Weltereignisse zeigen im Extrem, dass sich plötzlich Gruppen im Namen einer „Queerness“ mit Organisationen solidarisch zeigen, die mit „queeren“ Menschen kurzen Prozess machen. Wie soll sich da noch ein gemeinsamer Weg, überhaupt ein Weg finden lassen? Ich glaube, das ist eine Frage, die mich zu Beginn des Jahres umtreibt.
Die Jahreslosung für 2024 „Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe“ (1. Korinther 16,14) klingt angesichts der geschilderten Tagungserfahrung zunächst merkwürdig. Aber werden wir nicht in einem solchen Sinne in einigen Monaten wieder zusammenkommen, zu Demonstrationen, auf denen in bester Weise für „unser“ und das Recht aller auf Liebe, auf Entfaltung der Persönlichkeit, gegen Diskriminierung und Verfolgung gestritten wird? Wie auch der konkrete Alltag auf vielfältige Weise zeigen wird, dass man akademisch aufgeladene Tagungen mitunter in ihrer eigenen Bubble belassen muss und sich Solidarität im konkreten Miteinander erweist? Es täte der Tagung und der Mehrheit der Teilnehmer:innen übrigens unrecht, würde ich unerwähnt lassen, dass ich trotz der Zerwürfnisse in der Gruppe wirklich netten Menschen begegnet bin und sich in Pausen und am Abend, nach den Vorträgen, noch schöne, erhellende Gespräche im Geist gegenseitigen Interesses und der Gemeinschaft ergeben haben.
Ich wünschte mir, dass es ein gemeinsamer Weg bleibt, dass das Verbindende und nicht das Trennende uns leitet im Jahr 2024. Ich würde es wahrscheinlich Wohlwollen nennen, aber warum nicht (Nächsten-)Liebe. „Liebe ist“, so schreibt es die einstige evangelisch.de-Redakteurin Anne Kampf, eben nicht nur eine Emotion, sondern gerade im Hinblick auf die Jahreslosung, „eine christliche Haltung.“
Diese Haltung ist, auch wenn der Begriff Liebe zur Romantisierung verleitet, nicht einfach, ist sicher kein geradliniger Weg – weder allgemein noch im Dickicht queerer Partikularinteressen. Aber kann man nicht auch auf verschlungenen Pfaden und auf Umwegen zum Ziel, zur Mitte kommen? Geht es darum nicht in den "christlichen" Labyrinthen, die explizit keine Irrgärten sein sollen? Sie sind eine Form der Meditation in Bewegung mit einem Innehalten als Zentrum – bei den meisten heutigen Labyrinthen ist die Mitte eine freie Stelle, in einem christlichen Sinne ist die Mitte Gott. Was man sucht, was man auf dem Weg zu finden hofft, das ist natürlich höchst individuell, und doch: Vielleicht täte auch der Suche, der Frage danach, wie wir für unsere Anliegen noch einen gemeinsamen Weg finden können, manchmal ein Moment des Innehaltens gut.