Claudia Marlen Schröder ist ehrenamtliche Mitarbeiterin in der Evangelischen Kirche in Österreich. Sie ist gerade frisch in die Gemeindevertretung ihrer Pfarrgemeinde in Wien-Hetzendorf sowie als Vorstandsvorsitzende des neu gegründeten Vereins EvanQueer gewählt worden. Claudia Marlen Schröder ist promovierte Naturwissenschaftlerin und wuchs in Deutschland auf. Sie hatte ihr Coming-out als transidente Frau mit 58 Jahren. Im folgenden Interview spreche ich mit ihr über ihren persönlichen Zugang zum Glauben und ihre Erfahrungen in der Kirche.
Claudia Marlen Schröder (CMS): Ich bin schon christlich sozialisiert. Als junger Mensch war mir aber immer die Naturwissenschaft wichtig, Religion hatte ich in der Schule abgewählt. Mit meiner ersten Frau war ich dann aber regelmäßig in der Kirche, u.a. in Bibelkreisen. Es wurden dort immer wieder die gleichen Fragen gestellt und die gleichen Antworten gegeben. Wir haben festgestellt, dass unsere weitergehenden Fragen gar nicht beantwortet wurden. Daraufhin haben wir uns bewusst wieder entfernt von der Kirche, die keine geistige Entwicklung bot. Vor 13 Jahren – als ich nach Österreich kam – spürte ich dann wieder das Interesse für Glaubensfragen. Ich wollte mich damit auseinandersetzen und suchte eine Pfarrgemeinde in Linz auf. Dort fand ich Anschluss über einen Bibelkreis, der sich einmal die Woche traf. Parallel zur Beschäftigung mit der Bibel habe ich viel theologische Literatur gelesen. Dadurch eröffnete sich mir mein Glauben auch von einer anderen Seite, einer kritischen und diskursiven etwa. Buchstäblich konnte ich die Bibel nie lesen.
Ich fand damals für mich heraus, dass hinter dem Glauben ein Vertrauen steht, und dass der Glaube bei jedem Menschen anders ist. Das hat meine eigentlich naturwissenschaftliche Sichtweise auf das Leben ergänzt. Vielmehr wurde interessant für mich, was meinen Freund:innen in der Gemeinde der Glaube bedeutet und wie sie ihn leben.
KP: Du warst also immer gläubig oder religiös, aber es gab Zeiten, in denen du dich von der Kirche abgewandt hast …
CMS: Mit einem einfachen Ja mag ich das nicht beantworten. Für mich gehören Glaube und Kirche nicht zwingend zusammen. So war es im Grunde genommen schon immer. Viel wichtiger ist mir meine ganz persönliche Beziehung zum Glauben, zu Gott. Meine eigenen Grundsätze. Und die sind auch nicht mehr erschütterbar. Manche davon stoßen bei manchen Menschen auf Unverständnis.
KP: Welche zum Beispiel?
CMS: Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht.
KP: Der unverfügbare Gott bei Dietrich Bonhoeffer.
Nochmal zurück zu deiner Beziehung zu Kirche: Nun bist du ja mittlerweile sehr engagiert – bringst dich sehr in deiner Gemeinde in Wien und im Verein EvanQueer ein, der queere Menschen in den evangelischen Kirchen in Österreich repräsentiert. Und auch in der MCC Wien.
CMS: Ich möchte gerne auch anderen Menschen zeigen können, dass es vielfältige Zugänge zum Glauben gibt. So viele, wie es Menschen gibt. Nicht nur das, was man so gelehrt bekommt.
KP: Was wäre das zum Beispiel?
CMS: Sühnetod am Kreuz zum Beispiel. Ich verstehe schon auch den spirituellen Zugang zu diesem Bild, aber mir liegt die rationale Herangehensweise viel mehr. Jesus sagt hier am Kreuz: Seht her, ihr Menschen, ihr könnt mit mir machen, was ihr wollt. Ihr könnt mich umbringen, und ich komme dennoch zu euch zurück. Das spiegelt die absolute unbedingte Liebe Gottes wider.
KP: Knüpfst du hier auch mit deinen eigenen Erfahrungen im Leben an? Anders gefragt: Ist das etwas, was du in deinem eigenen Leben auch erlebt hast?
CMS: Ja, gerade auch mit der Transition. Mit dem Anderssein. Und darin Angenommensein.
KP: Du hast also diese unbedingte Liebe Gottes auch in deinem Leben gespürt?!
CMS: Ja, für mich hebt der Glaube darauf ab, die Chance im Kreuz zu sehen. Es ist vielleicht etwas geschehen, das sich nicht rückgängig machen lässt. Aber du sollst dich nicht dein ganzes Leben damit befassen, sondern du sollst in die Zukunft blicken, damit du auch wieder Verantwortung übernehmen kannst. Ich kann insofern verstehen, dass jemand sagt: Das Kreuz ist eine Erlösung für mich, weil ich mich nicht mehr an das Alte binde, das mich belastet.
KP: Steht in deinem Leben das Alte auch für die Zeit vor deinem Coming Out, eine Zeit, in der du nicht offen als Frau leben konntest?
CMS: Das ist nicht leicht, sich davon zu lösen und vollständig zu befreien. Es fällt mir immer noch schwer, alle Einflüsse von Familie und Gesellschaft loszulassen. Das hängt mir nach, und das beeinträchtigt auch. Die Entwicklung, die die meisten Jugendlichen machen – sich z.B. in der Pubertät von der Familie zu distanzieren, eigene Sichtweisen auf die Dinge zu erlernen und mit den Eltern in die Auseinandersetzung zu gehen – das fehlt. Das geht auch nicht mehr. Die Zeit, die man braucht, von der Pubertät aus sich als erwachsener Mensch in der Familie zu etablieren und als eigenständige Person akzeptiert zu werden, dauert circa zehn Jahre. Und diese zehn Jahre gibt es bei mir nicht mehr, denn mein Vater lebt nicht mehr und meine Mutter ist schon alt. Ohne die Möglichkeit dieser Erfahrung und Aussprache also trotzdem sagen zu können: Ich habe Erlösung im Kreuz, das ist schwierig für mich. Theoretisch ja, praktisch schwer (lacht).
KP: Würdest du sagen, dass dein Coming-out als Frau deine Beziehung zu Gott verändert hat?
CMS: Ich habe nie an Gott gezweifelt, deshalb würde ich sagen: nein. Aber ich bin vielleicht in meinen Glaubensaussagen direkter geworden, offener. Ich halte mich nicht mehr zurück. Früher habe ich sehr darauf geachtet, dass ich bloß nicht auffalle. Da hat diese Zurückhaltung, nicht auffallen zu dürfen, sich auf andere Bereiche übertragen. Das habe ich ziemlich abgelegt. Ich bin direkter geworden, und das melden mir auch andere zurück, im positiven Sinne.
Jedenfalls habe ich nie daran gezweifelt, dass Gott mich als Frau akzeptiert und mit mir durch mein Leben geht. Aber ich habe mich gefragt, wie ich das den anderen beibringe, dass Gott mit mir ist und dass Transsein nichts Gottloses ist. Das hat mich beschäftigt. Ich hatte Angst, wie meine Gemeinde das aufnimmt.
KP: (Wie) hast du das lösen können? Wie bist du das angegangen?
CMS: Mein offizielles Coming-out in der Gemeinde war eine schriftliche Erklärung an die Gemeindevertretung. Zwischen diesem Brief und einem ersten Gespräch mit dem Gemeindepfarrer lag sicherlich ein ganzes Jahr, mit zahlreichen Gesprächen mit lieben Freund:innen in der Gemeinde, denen ich mich früher geöffnet habe. Freund:innen, die dich nehmen wie du bist, sind wichtig, um den Stimmen anderer Menschen nicht zu viel Gewicht beizumessen. Eine Aussage einer Freundin trage ich heute noch bei mir: „Du bist der nächste Schritt an der Hand Gottes über meinen Tellerrand hinaus.“ Ist das nicht bewegend?!
KP: Wir haben schon öfters über verschiedene Bibeltexte miteinander gesprochen und was sie uns bedeuten. Was sind denn deine Lieblingsgeschichten in der Bibel?
CMS: Eine ist die Erzählung der blutflüssigen Frau. Diese Frau ist völlig alleine. Sie hat niemanden, dem sie anvertrauen kann, was sie im Innersten beunruhigt. Sie fasst aber ihren Mut zusammen und tritt an Jesus heran, und Jesus wird im Herzen von ihr berührt, so heißt es im griechischen Text. Und er wird so stark berührt, dass er alles um sich herum vergisst. Denn er ist eigentlich angesprochen worden wegen eines Gemeindevorstehers, dessen Tochter im Sterben liegt. Aber das Einzige, was ihn gerade interessiert, ist die blutflüssige Frau. Er wendet sich damit einer Person zu, die in der Gesellschaft ausgestoßen ist. Die Frau wiederum fühlt sich vollkommen aufgenommen im Gegenüber mit Jesus. Die Befreiung aus der Einsamkeit ist hier die Heilung in der Geschichte. Das ist gerade für mich als trans Person eine sehr stärkende Geschichte, denn sie sagt mir, dass ich mit meinen Sorgen und Ängsten, den gesellschaftlichen Herausforderungen nicht allein bin. Es gibt immer jemanden, an den ich mich im Vertrauen wenden kann.
Unter anderem hat mich diese Geschichte motiviert, mich queeren Menschen, aber nicht ausschließlich, zuzuwenden. Wir müssen diesen Menschen aktiv zuhören, denn erst dadurch können wir sie auch verstehen – und entgegen so vieler Normen auch annehmen, wie sie sind. Der Verein EvanQueer will diesen Weg in Österreich gehen.
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Anm.: Der Verein EvanQueer hat sich in diesem Monat in Wien gegründet. Weitere Informationen und der vereinseigene Webauftritt folgen.