Die Tage werden grauer, das Kirchenjahr neigt sich dem Ende entgegen – für die christlichen Kirchen die Zeit des Totengedenkens. In der römisch-katholischen Kirche wird dieses am Allerseelentag, dem 2. November, gefeiert; in den protestantischen Kirchen am Ewigkeitssonntag, dem letzten Sonntag des Kirchenjahres. Der Sonntag davor ist in Deutschland der Volkstrauertag, hier ist staatliches Totengedenken angesagt. Und für schwule Männer insbesondere meines Alters folgt am 1. Dezember der Welt-Aids-Tag, der für viele von uns ebenfalls mit Totengedenken verbunden ist.
Vielen Menschen verdrängen die Gedanken an den Tod. Auch das Sterben ist in unserer Gesellschaft unsichtbar geworden – und zugleich professionalisiert: Pflegedienste, Palliativ-Stationen, Hospize und (gerade heftig umstritten) Sterbehilfe-Vereine. Von Sterben und Tod betreffen lassen sich viele erst, wenn es um nahe Angehörige oder Freunde geht oder wenn Sterben und Tod massenhaft auftreten: In der Corona-Pandemie, in Israel und Palästina, in der Ukraine – oder eben in den Anfangsjahren der Aids-Pandemie.
Unter den schwulen Männern, die in den 1970er und 1980er Jahren ihren Coming-Out und ihre ersten sexuellen Erfahrungen hatten, gibt es wohl niemanden, der nicht zahlreiche Menschen kennt, die von dem HI-Virus in kürzester Zeit hinweggerafft wurden. Das Virus war allgegenwärtig in der Community, Therapie noch kaum vorhanden und wenn, dann mit starken Nebenwirkungen verbunden und meist nur von begrenzter Wirksamkeit. Die Stigmatisierung der Infizierten war hoch – in der Gesellschaft, aber zum Teil auch in der Community.
1988, sieben Jahre nach der Identifikation des Virus, rief die Weltgesundheitsorganisation den ersten Welt-Aids-Tag aus. Der 1. Dezember markiert dabei das Datum, an dem im Jahr 1981 Aids als eigenständige Krankheit durch die US-amerikanische Gesundheitsbehörde CDC anerkannt worden war. Von Beginn an ist dieser Tag von drei Zielen bestimmt: Die Stigmatisierung zu durchbrechen, Prävention zu ermöglichen und der Toten zu gedenken.
Bei dem römisch-katholischen Allerseelenfest steht die Fürbitte für die Verstorbenen im Mittelpunkt – weshalb Martin Luther dieses Fest entschieden ablehnte. Nach römisch-katholischer Lehrmeinung kommen die Seelen der Verstorbenen in der Regel weder direkt in den Himmel noch direkt in die Hölle, sondern müssen im Fegefeuer für ihre Sünden büßen. Angehörige und Freunde können durch Gebet, Fürbitte und Almosen im Namen der Verstorbenen deren Zeit im Fegefeuer verkürzen, vielerorts ist es bis heute auch möglich, in der Woche nach Allerseelen einen speziellen „Allerseelenablass“ für die Verstorbenen zu erwerben.
Kein Wunder also, dass Martin Luther, dem ja insbesondere der Ablasshandel ein Dorn im Auge war, mit diesem Festtag nichts anfangen konnte. Dahinter steht seine Erkenntnis der „Rechtfertigung allein aus Gnade“. Ein Mensch kann nicht aus eigener Kraft oder durch die Fürbitten und Almosen anderer vor Gott vollkommen werden und braucht es auch nicht. In Jesus Christus ist Gott uns Menschen so nah gekommen, dass er ein für allemal „Ja“ zu uns gesagt hat. Wir sind von Gott angenommen, mit und trotz unserer Unvollkommenheiten und Fehler. Aus dieser Einsicht öffnet sich für Martin Luther ein weiter Lebensraum, in dem wir dieser Gnade Gottes antworten und in Verantwortung vor ihm leben können (und sollen).
Als „Totensonntag“ wird der letzte Tag im Kirchenjahr daher auch erst seit 1816 begangen auf Anordnung des Preußischen Königs Friedrich Wilhelm III., der auf diese Weise die Erinnerung an die vielen Verstorbenen der Befreiungskriege 1813 bis 1815 aufrecht halten wollte. Liturgisch heißt dieser Sonntag „Ewigkeitssonntag“. Im Mittelpunkt der Lesungen steht die Erwartung des Jüngsten Tages und der Wiederkunft Christi. Da sich mit der Vorstellung von der Wiederkunft Christi die Hoffnung verbindet, dass dann alle Gläubigen vor ihm vereint sein werden, war der Tag aber schon lange vor Friedrich Wilhelm III. der Ort im protestantischen Kirchenjahr, an dem auch die Erinnerung an die Verstorbenen ihren Platz hatte.
Solches Erinnern ist wichtig und deswegen ist es gut, dass es diese Tage der Erinnerung gibt.
Erinnern hilft, von den Verstorbenen Abschied zu nehmen, es ist ein wichtiges Element im Trauerprozess.
Erinnern lässt die Verstorbenen nicht verlorengehen. So problematisch manche Verklärung von Verstorbenen auch sein kann, ihre Ideen, ihre Ideale, ihre Werte leben in der Erinnerung weiter und prägen die nachfolgenden Generationen.
Erinnern lässt aber auch die besonderen Bedingungen eines Todes nicht vergessen, sei es das Wüten eines Virus, sei es ein kriegerischer Konflikt oder ein Hass-Verbrechen. Damit hat das Erinnern auch eine politische und gesellschaftliche Funktion. Es hält uns sensibel für ein Sterben vor der Zeit, macht uns wachsam gegenüber allen Kräften der Vernichtung und des Todes.