Heute am 1. November ist Allerheiligen. In der katholischen Tradition wird an diesem Tag allen Heiligen gedacht, die in der Kirchengeschichte bis heute als Mittler:innen zwischen den Gläubigen und Gott versucht haben Brücken zu bauen und die Vorbilder im Glauben waren.
Ich möchte den Tag nutzen, um von einer Person zu erzählen, von der ich auf der Tagung „Queer im Pfarrhaus“ im September 2023 an der Universität in Münster am Fachbereich Evangelische Theologie zum ersten Mal gehört habe. Es geht um Pauli Murray. Eine schwarze Person, die heute als intergeschlechtlich bezeichnet würde und meines Wissens in Deutschland kaum bekannt ist. Ich möchte heute etwas von Pauli Murray erzählen und nutze für Pauli Murray die Pronomen sie*/ihre*.
Eigentlich heißt Pauli Anna Paula. Sie* wurde 1910 in Baltimore in einer schwarzen Familie geboren. Sie* wuchs mit sechs Geschwistern bei einer Tante und den Großeltern auf, da ihre* Mutter früh starb und der Vater überfordert war. Schon mit acht Jahren ging sie in der Nachbarschaft putzen und musste Geld verdienen. Armut, Rassismus und kaum Zugang zu Bildung prägten die Kindheit und Jugend von Pauli. Dennoch bestand sie* die High-School mit Auszeichnungen und wollte in New York am Hunter College studieren. Denn das College erhob damals keine Studiengebühren. Da ihre* Tante krank wurde, konnte Pauli für die Lebenshaltungskosten nicht aufkommen. Sie jobbte als Hausmeister:in, Schreiber:in und Reporter:in und kämpfte sich durch, sodass sie* schließlich doch studieren konnte. Nach dem College nahm sie* verschiedene Jobs an. Gleichzeitig wurde sie* immer politischer. Sie* kämpfte gegen Rassismus und für Bildungsgerechtigkeit.
Pauli Murrray setzte sich in dieser Zeit auch mit ihrer* eigenen Geschlechtsidentität auseinander. Sie* liebte es Hosen zu tragen, interessierte sich mehr für Frauen als für Männer und wollte selbst lieber ein Mann sein. Durch die Lektüre über Geschlecht und Sexualität, etwa von Magnus Hirschfeld und Havelock Ellis, lernte Pauli Murray viel über sich selbst. Sie* bezeichnete sich nicht als homosexuell, sondern fühlte sich wie ein Mann. Einen Namen hatte sie* dafür aber nicht, gab sich aber selbst den Namen Pauli. 1937 erlitt Pauli einen schweren emotionalen Zusammenbruch und begab sich in der Folge in therapeutische Behandlung.
Anwält:in und Autor:in
In den vierziger Jahren studierte Pauli Rechtswissenschaften an der Howard University und setzte sich im Studium vor allem mit rassistischen und frauenfeindlichen Strukturen in der US amerikanischen Gesetzgebung auseinander. Sie* dachte bereits in intersektionalen Verknüpfungen, als es das theoretische Konzept noch gar nicht gab. Pauli nahm auch an gewaltfreien Aktionen teil, z.B. an Sit-Ins in rassistischen Restaurants, in denen Schwarze keinen Zugang hatten oder in Bussen mit segregierten Sitzplätzen.
Nach dem Krieg war die Jobsuche für Pauli schwierig, da die zurückgekehrten Männer Frauen wieder von ihren Positionen verdrängten und die konservative Politik klare Geschlechtertrennung forderte. Sie* ging nach New York und arbeitete dort bei verschiedenen Anwaltskanzleien. Pauli setzte sich vor allem für ärmere schwarze Frauen ein. Dabei verdiente sie* nicht viel. Und in folgenden Jahren musste sie* immer häufiger auch psychotherapeutische Unterstützung in Anspruch nehmen.
Nach einer Schilddrüsenoperation im Jahr 1954 ging Pauli zur Genesung in die Künstlerkolonie MacDowell in New Hampshire, wo sie* in einem Studio neben dem Schwarzen Autor James Baldwin an einem Manuskript zur Aufarbeitung der eigenen Familiengeschichte schrieb. Während Pauli das Buch fertigstellte, starb 1955 ihre* Tante Pauline. Paulis Buch, „Proud Shoes“, erschien im Oktober 1956.
Von 1956 bis 1960 arbeitete Pauli Murray bei der großen Kanzlei Paul Weiss und lernte dort Irene (Renee) Barlow kennen. Die beiden waren bis zu Renees Tod ein Paar. Im Januar 1973 entdeckten Ärzte in New York einen inoperablen Hirntumor bei Renee Barlow. Im Februar desselben Jahres starb sie. Dieser Tod erschütterte Pauli schwer und riss sie* in eine Lebenskrise. Sie* hörte mit allen beruflichen und aktivistischen Tätigkeiten auf und fand Zuflucht im Glauben. Pauli war wie Renee zu ihren Lebzeiten aktives Mitglied in einer episkopalen Kirche (Episcopal Church = Anglikanische Kirche in den USA) und entschied sich schließlich, Theologie zu studieren und Priester*in zu werden.
Diakon*in und Priester*in
Als erste Frau* besuchte Pauli das General Theological Seminary (GTS) in New York. 1975 wechselte sie* an das progressive Virginia Theological Seminary. Pauli forderte die Priesterweihe für Frauen und interessierte sich für Bücher zur Befreiungstheologie und zu feministischen Fragestellung.
Im Juni 1976 wurde Pauli zur Diakon:in, und am 8. Januar in einem großen Gottesdienst in Washington als erste Schwarze Priester:in der episkopalen Kirche in den USA geweiht. Pauli bekam nie eine eigene Gemeinde. Sie* predigte in der Folge aber in verschiedenen Kirchen und Gemeinden, hielt Reden und Vorträge an Universitäten und konnte sich aus den Erlösen einer Neuauflage von „Proud Shoes“ ein Auto kaufen.
Pauli war ein:e rhetorisch geschulte:r Redner:in, die Menschen berührte und aufrütteln konnte. Glaube und Aktivismus widersprachen sich nicht bei ihr*, sondern gehörten untrennbar zusammen. Sie wie die Gottesebenbildlichkeit und Menschenwürde aller Menschen für Pauli zusammengehörten. Die Sensibilität für Rassismus und Frauenfeindlichkeit und die schmerzlichen Erfahrungen der strikten dualistischen Vorgaben zur Geschlechtsidentität in gesellschaftlichen und kirchlichen Orten waren der Kontext ihrer* Predigten und Vorträge. Darin war sie* geradezu prophetisch unterwegs.
1984 zog Pauli in die Nähe von Pittsburgh, um damit näher bei ihrer* neuen Freundin Maida Springer Kemp zu sein, mit der Pauli Reisen unternahm und mit ihr zusammen ein Haus bezog (Maida lebte im Erdgeschoss, Pauli im ersten Stock). An Weihnachten 1984 wurde Pauli mit Verdacht auf Pankreaskrebs ins Krankenhaus eingeliefert und operiert. Von der Operation erholte sie* sich nicht mehr und verstarb im Juli 1985 im Alter von 74 Jahren.
Sexualität und Geschlechtsidentität
Pauli Murray beschäftigte sich ihr* ganzes Leben lang mit ihrer* geschlechtlichen und sexuellen Identität. Die US amerikanische Historikerin Rosalind Rosenberg geht davon aus, dass man im heutigen Sprachgebrauch von einer transgender Geschlechtsidentität sprechen würde und beschreibt Pauli als „gender-nonconforming“. Nach den Informationen über Geschlecht und Sexualität, die Pauli zur Verfügung standen vermutete sie* selbst, dass sie* „pseudohermaphroditisch“ (im heutigen Sprachgebrauch: intergeschlechtlich) sein könnte.
In Büchern und Artikeln zu Pauli Murray, wird über Pauli mit männlichen, weiblichen oder geschlechtsneutralen Pronomen geschrieben. Obwohl sich Pauli Murray öffentlich und privat kaum zu ihrer* Geschlechtsidentität und sexuellen Orientierung äußerte, gilt Pauli heute vielen queeren Aktivist:innen als Vorbild. Auch innerhalb der schwarzen Bürgerrechtsbewegung und der schwarzen feministischen Community wird Pauli bis heute zitiert. Pauli wird verehrt als wichtige Rechtsrhetoriker:in, als wichtige Schwarze literarische Stimme und theologische Denker:in, die* die Erfahrung afroamerikanischer Frauen stark machte.
Pauli Murray wurde von der Episcopal Church heiliggesprochen. 2017 wurde ein College in Yale nach ihr* benannt. Das Haus, in dem Pauli ihre* Kindheit verbrachte, ist heute ein National Historic Landmark. 2021 wurde zu Pauli auch eine Dokumentation veröffentlicht: „My Name is Pauli Murray“, die auf Prime Video zu sehen ist.
Heute möchte ich Pauli Murray als Alltagsheilige:n erinnern, die* andere queere Gläubige ermutigt, für den eigenen Weg einzustehen und für Gleichberechtigung für alle zu kämpfen. Denn so würde es Pauli wohl sagen: Alle Menschen sind Gottes Ebenbild und haben alle die gleiche Würde und die gleichen Rechte.
Zum Weiterlesen:
Rosalind Rosenberg: Jane Crow: The Life of Pauli Murray. New York, NY 2017