Seit kurzem bin auch ich im Besitz eines Schlüsselanhängers mit dem Bild des Heiligen Christophorus, wie er mit dem Christuskind auf den Schultern durch das Wasser watet, gestützt auf einen Holzstab.
Ich weiß, der gute Martin Luther würde es als abergläubisch abtun. Aber es musste einfach sein. Fündig wurde ich im kleinen Klosterladen des Karmelklosters direkt neben der Gedenkkirche Maria Regina Martyrum im Berliner Stadtteil Charlottenburg. Für viele ein Schutzpatron der Reisenden allgemein, der Autofahrer im Besonderen, ist Christophorus mir ein Begleiter durch den Alltag, der mich ermutigt, trotz mancher Last nicht in der Erstarrung zu verharren, sondern weiterzugehen.
Das Bewusstsein, in krisenhaften Zeiten zu leben, kann mitunter lähmen. Auch die Nachrichten für Schwule, Lesben, allgemein queere Menschen, sind derzeit oft wenig ermutigend. Die Zahl der Übergriffe auf Homosexuelle und Trans-Personen nimmt stetig zu, den ganzen Sommer hindurch wurden Attacken auf CSD-Paraden vermeldet. In Deutschlands Parteiensystem droht ein Rechtsruck nach sehr weit rechts. Weltweit scheinen autoritäre Regime mit einer repressiven, queerfeindlichen Politik zu erstarken. Wenn man dann noch mit dem Coming-out hadert oder privat in einem missgünstigen, gehässigen Umfeld lebt, kann es sich anfühlen, als stünde einem das Wasser bis zum Hals und als würde man von der Last der ganzen Welt noch weiter nach unten gedrückt. Und bevor man wieder die Kraft findet, politisch und gesellschaftlich gegen diese Entwicklungen anzugehen, braucht es vielleicht einen kurzen Impuls, einen Moment des Durchatmens, der Selbstvergewisserung - und sei es durch einen Blick auf den Schlüsselanhänger.
In ihrem Ausgang erzählt die Christusträger-Legende von einem Riesen (einst auch noch mit Hundekopf, aber das lassen wir mal weg), der dem Mächtigsten der Welt dienen will, wobei sich dieser für Christophorus dadurch auszeichnen soll, keine Angst zu haben. Er wird zuletzt auf Christus verwiesen, und bis der sich zeige, solle er, der Riese, den Menschen helfen, auf die andere Seite eines Flusses zu kommen. Mir gefällt hier die Darstellung des Christophorus als Suchender, der zum Helfer wird.
Ab jetzt ist der Verlauf sicher bekannt. Ein kleines Kind will übergesetzt werden. Eine leichte Aufgabe, doch das geschulterte Kind scheint immer schwerer zu werden, der Träger erreicht mühsam das andere Ufer und wird neben der Belehrung, wem er da gerade gedient hat, mit einem Wunder belohnt. Er pflanzt seinen Wanderstab in die Erde, und der beginnt zu blühen und Früchte zu tragen. Es ist ein Bild von Lebendigkeit, von der Fruchtbarkeit des Helfens. Für mich verweist das auf eine Mitwelt, auf eine Community, in der man eine Aufgabe übernehmen, sich mit seinen Fähigkeiten einbringen kann, ohne den Aspekt, dass es trotzdem mitunter mühsam sein mag, zu übersehen. Es ist eine Ermutigung, ohne naiv zu sein. Die Last lässt sich - ebenso wie die Angst - eben nicht immer einfach abschütteln. Doch steht die Erzählung zugleich dafür, dass es möglich ist, trotzdem weiterzugehen und seinen Weg - einen gelingenden Weg - zu finden.
Anders als der Hlg. Sebastian wird Christophorus wohl keine „Schwulen-Ikone“ werden (wobei ich persönlich den bärtigen Mann dem glattrasierten Jüngling am Baum vorziehen würde). Der Märtyrer Sebastian ist vor allem in der bildenden Kunst zur Projektionsfläche für den durch Tabus und Normen gefesselten Eros geworden. Eine Deutung, die in Zeiten von Aids aktualisiert werden konnte.
In der Legende vom Christophorus sind auch jenseits der christlichen Deutung menschliche Grunderfahrungen wie das Tragen/Ertragen von Last, der Wunsch nach einer helfenden Hand ebenso wie das schöne (gesegnete) Erfolgsgefühl, wenn man anderen helfen konnte, auf fast universelle Weise enthalten. Warum also sollte der Schutzpatron nicht auch Begleiter für queere Menschen sein? Auf der nächsten Reise, auf dem Lebensweg.