Man muss manchmal beim religiösen Mitbewerber lesen, um nachdrücklich auf interessante Texte hingewiesen zu werden - so auf den jüngst veröffentlichten "3. Ökumenischen Bericht zur Religionsfreiheit 2023 - Eine christliche Perspektive auf ein universelles Menschenrecht", eine gemeinsame Publikation der Deutschen Bischofskonferenz und der EKD.
In einem Kommentar auf katholisch.de ist Abt Nikodemus Schnabel voll des Lobes: "Meines Erachtens handelt es sich bei diesem gemeinsamen Papier um das Beste, was in diesem Jahr bislang aus kirchenamtlicher Feder geflossen ist: Wirklich jede einzelne dieses 182 Seiten starken Texts ist lesenswert!"
Besondere Aspekte sind dem Abt die in der Schrift thematisierte mangelnde Religionsfreiheit von „domestic migrant workers“ oder auch die Sicht auf Israel und Palästina. Es sei ihm unverständlich, dass der Bericht kaum Beachtung finde und die Kirchen wenig dafür täten, dass er sie bekomme. Und in der Tat ist auch auf evangelisch.de nur eine knappe Notiz zu finden. Sie stellt das grundlegende Thema heraus, also die Situation der Religionsfreiheit weltweit, die im Bericht sowohl einleitend und theoretisch wie auch anhand zahlreicher Länderbeispiele diskutiert wird.
Ich möchte im Rahmen dieses Blogs allerdings nicht der allgemeinen Erörterung folgen, sondern auf das Kapitel „Religionsfreiheit und Gendergerechtigkeit“ hinweisen, weil es für die Arbeit von engagierten Menschen und Gruppen, die sich für Belange von LGBTIQ* einsetzen, interessante Klarstellungen und Argumente enthält. Es ist eines von mehreren Querschnittsthemen des Berichts, in denen – wie es in einem Schlusswort heißt - „die komplexe Einbettung der Religionsfreiheit in andere menschenrechtliche, gesellschaftliche und politische Problemlagen verdeutlicht“ werden soll. Neben Gendergerechtigkeit sind dies etwa das Verhältnis zu Migration, zu Rechtspopulismus oder die Religionsfreiheit indigener Völker.
Unter dem Stichwort Gendergerechtigkeit werden im weitesten Sinne Versuche analysiert, "Religionsfreiheit" gegen die Forderungen anderer, konkret: von Frauen, von queeren Personen, auszuspielen oder gar über sie zu stellen. Sehr prägnant heißt es in einem Fazit: "Wieso jemand in seiner Religionsfreiheit dadurch irgendwie beeinträchtigt werden sollte, dass Lesben und Schwule ihre Beziehungen in der Gesellschaft angst- und diskriminierungsfrei leben können, bleibt dabei in der Regel völlig unerfindlich."
Hier beziehen die Autor:innen sehr klar Position und folgen dabei der Grundüberzeugung des Berichts, Religionsfreiheit nicht isoliert, sondern nur im Zusammenspiel mit anderen Menschenrechten zu begreifen. Schon im einleitenden Kapitel war davor gewarnt worden, "die Religionsfreiheit zu einem 'Supergrundrecht' zu stilisieren, das (...) grundsätzlich von den anderen Grundrechten zu unterscheiden und über sie zu stellen wäre. Die spezifische Bedeutung der Religionsfreiheit erschließt sich im Zusammenhang mit allen anderen Grundrechten und im Kontext einer freiheitlich-demokratischen, rechtsstaatlichen Verfassungsordnung.“
Was einem die Debatte im Einzelfall nicht erspart, aber eben nicht im Sinne einer Vorrangstellung der Religionsfreiheit, sondern als ein Teil in einem Abwägungs- und Aushandlungsprozess. Kein Zweifel besteht für den Bericht allerdings darin, dass ihr "aufgrund ihrer besonderen Nähe zur Menschenwürde ein besonderes Gewicht zukommen kann".
Hinsichtlich Genderfragen und Forderungen queerer Menschen wird eine klare Grenze gezogen: "Zwar haben Menschen das Recht, religiös oder anders motivierte persönliche Vorbehalte gegen die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare zu artikulieren und auch öffentlich gewaltfrei für ihre Positionen zu werben. Aufstachelungen zu Hass-Aktionen sind aber weder von der Meinungsfreiheit noch von der Religionsfreiheit her gedeckt."
Eine weitere Klarstellung, die mich beeindruckt hat, gilt dem Versuch, unter dem Deckmantel der Religionsfreiheit eigene Normen durchsetzen zu wollen. "Die Religionsfreiheit dient nicht etwa der rechtlichen Befestigung religiöser Normen oder Werte, sondern schützt die Freiheit der Menschen, in Fragen religiös-weltanschaulicher Überzeugung und Praxis ihren jeweils eigenen Weg zu gehen und zu finden – wie immer im Einzelnen dieser Weg aussehen mag." Besonders kritisiert wird, wenn diese "Befestigung" durch staatliche Akteure geschieht. Ein Beispiel ist etwa das Vorgehen des ungarischen Präsidenten Viktor Orbàn, der sich gerne und leider viel zu wenig widersprochen als Schutzmacht des christlichen Abendlandes präsentiert. Das Kapitel "Religionsfreiheit und Rechtspopulismus" ist hier hinsichtlich aktueller Ereignisse in Europa wie weltweit eine fast zwangsläufige Ergänzung.
Es ist den Autor:innen übrigens auch klar, dass, wer sich Menschenrechte, zumal als universelle Rechte, auf die Fahnen schreibt, nicht darum herumkommt, diese auch innerhalb der eigenen vier Kirchenwände zu gewährleisten. Was zu bekannten innerkirchlichen Widersprüchlichkeiten führt, sei es beim Arbeitsrecht, bei der Frage nach der Beteiligung von Frauen. Es sind nicht nur konservative Hotelbesitzer, die gleichgeschlechtlichen Paaren die Übernachtung verweigern, sondern eben auch christliche Institutionen, die homosexuellen Menschen bei einem Coming-out mit Kündigung droh(t)en. Hier würde Religionsfreiheit als Hindernis auf dem Weg zu Gleichberechtigung und Diskriminierungsfreiheit wahrgenommen, konstatiert der Bericht: "Für diejenigen, denen die Religionsfreiheit am Herzen liegt, muss dies ein Grund zur Sorge sein. Klarstellungen bezüglich des Verhältnisses zwischen dem Menschenrecht der Religionsfreiheit und anderen Menschenrechten – insbesondere im Bereich von Gendergerechtigkeit – erweisen sich daher als vordringlich."
Das zwölf Seiten lange Kapitel "Religionsfreiheit und Gendergerechtigkeit" (innerhalb eines Berichts von 180 Seiten) hat mich beeindruckt, weil es sehr deutlich aufzeigt, wo dem einseitigen Pochen auf Religionsfreiheit ein Missverständnis eben dieser Freiheit unterliegt. Mit dem Ansatz, das universelle Grundrecht auf Religionsfreiheit als ein von anderen Grundrechten nicht losgelöstes Recht zu denken, wenden sich die Autor:innen gegen einseitige Vereinnahmungen des Begriffs etwa für einen polarisierenden Kulturkampf, der sich gegen einen weltoffenen Kultur- und Bildungspolitik, gegen emanzipatorische Anti-Diskriminierungspolitik wendet.
Der 3. Ökumenische Bericht richtet sich allgemein an alle, die sich für Menschenrechtsfragen bzw. für das Verhältnis Religion, Freiheit und Menschenrechte in einem übergreifenden, oft auch theoretischen Sinn interessieren. Nicht zuletzt wegen seines hier vorgestellten Kapitels zur Gendergerechtigkeit sei er auch allen, die sich für queere Belange in den christlichen Kirchen engagieren, empfohlen.
Info: Die Publikation "3. Ökumenischer Bericht zur Religionsfreiheit 2023 - Eine christliche Perspektive auf ein universelles Menschenrecht" kann gegen eine geringe Gebühr als gedrucktes Exemplar bestellt oder kostenlos als PDF heruntergeladen werden (Link zu Internetseite EKD).