Vor genau 650 Jahren hatte die englische Mystikerin Juliana von Norwich (geboren 1342, gestorben nach 1413) ihre göttlichen Offenbarungen, die sie später niederschrieb – damit wurde sie zur ersten offiziellen weiblichen englischsprachigen Autorin der Geschichte. Auch inhaltlich hat Juliana als Pionierin wesentlich zur mittelalterlichen feministischen Theologie beigetragen. Auch aus queerer Perspektive sind ihre Vorstellungen über Gott und Jesus von Bedeutung.
Juliana von Norwich lebte in Reklusion. Dies taten damals vor allem Männer, die sich zur geistlichen Einkehr einsperren ließen. Juliana traf ihre Entscheidung für ein solches zurückgezogenes Leben, als sie mit 30 Jahren schwer erkrankte und fast starb. Sie erlebte 16 mystische Visionen und wurde zur Klausnerin in einer Zelle in der Kirche St. Julian in Norwich. Dieser Ort gab ihr auch den Namen Juliana von Norwich (englisch: Julian of Norwich) – ihr Geburtsname ist unbekannt.
Als Mystikerin sehnte sie sich danach, ganz mit Christi Leib zu verschmelzen. Dabei visionierte sie ekstatisch über die offene Wunde an seiner Seite in seinen Körper einzudringen. So beschreibt Juliana von Norwich in ihren „Offenbarungen der göttlichen Liebe“ ihre Visionen von Jesus als Mutter. “The Mother can lay her child tenderly to her breast, but our tender Mother Jesus can lead us easily into his blessed breast through his sweet open side, and show us there a part of the godhead and of the joys of heaven with inner certainty of endless bliss.”
Juliana deutet Jesus als brustgebende Mutter. Durch dieses theologische Gender-bending empowert sie Frauen, indem sie Gottes Liebe mit Mutterliebe vergleicht, die damals und auch heute noch als Inbegriff der unbedingten Liebe gilt, die nicht wertet oder verurteilt. Es sei logisch, dass Gott, der unser Vater sei, auch unsere Mutter sei, schreibt sie. „Unser Vater will, unsere Mutter wirkt und unser guter Herr, der Heilige Geist, bestätigt.“ Sie attribuiert Jesus, der an zweiter Stelle der dreifaltigen Formel steht, hier weiblich, ja mütterlich. Ein Jesus, der theologisch transitioniert, kann auch vielen queeren Menschen Vorbild und Stärke sein.
Entgegen der damaligen kirchlichen Haltung konzentrieren sich ihre theologischen Botschaften auf das Mitgefühl Gottes und die Liebe gegenüber allen. Die Vorstellung von göttlicher Verurteilung und Verdammung seien menschengemacht, so schreibt Juliana. Gott habe nämlich nur Gutes im Sinn für die Menschen. Und so lautet auch der wohl berühmteste Satz von ihr: „All shall be well and all shall be well and all manner of thing shall be well.“ („Alles wird gut sein und alle werden gut sein, und aller Art Dinge wird gut sein.“) Damals war dieser Satz revolutionär und steht symbolisch auch für Julianas seelsorgerliche Kompetenz: Sie galt als Mutmacherin in Zeiten von Seuchen, Krisen und Katastrophen.
Auch heute können ihre Texte für uns lebendig werden. Auch wenn wir nichts über Julianas Sexualität wissen (ob sie hetero oder queer war, wissen wir nicht), so kann sie heute besonders in das Leben queerer Menschen hineinsprechen. Die Mühsal des Coming-outs, die Bedrohung von LGBTIQ in vielen Gesellschaften, der Wunsch nach seelischer und spiritueller Unversehrtheit … „Alles wird gut sein“ muss in dieser Perspektive nicht bagatellisierend-beruhigend gelesen werden, sondern kann als heilende Affirmation ganz im Sinne der Mystiker:innen inhaliert werden. Wie es die Reich Gottes Vorstellung Christi verspricht: Es gibt einen Ort, an dem alle gut sein werden.