Ich saß auf der Empore des Dominikanerklosters in Frankfurt als Zuhörerin, als der Kirchenpräsident Dr. Dr. h.c. Volker Jung das Schuldbekenntnis der Kirchenleitung vorstellte. Minuten später erzählten Pfarrer Nulf Schade-James und Pfarrerin Yvonne Fischer, was dieses Schuldbekenntnis für sie als offen schwul und lesbisch lebende Gläubige bedeutet. Im Konferenzsaal war es mucks Mäuschen still. Alle hörten aufmerksam zu, kaum jemand schien zu atmen. Auch ich musste mich mühsam zum Atmen zwingen, so gebannt hörte ich zu. Als sich in der anschließenden Debatte dann auch noch eine 18-jährige Abiturientin und junge Synodale vor dem gesamten Kirchenparlament als queer outete und bekräftigte, wie wichtig auch für junge Leute so ein Schuldbekenntnis ist, war endgültig klar, wie wichtig dieser Schritt ist.
Die Debatte um das Schuldbekenntnis wurde auf der Frühjahrssynode der EKHN von allen Beteiligten respektvoll geführt. Es zeichnete sich schnell ab, dass es dafür eine Mehrheit in der Synode geben würde. Einzelne Synodale beantragen dennoch eine geheime Abstimmung, die dann auch durchgeführt wurde. 89 Personen befürworteten das Schuldbekenntnis, neun enthielten sich und nur fünf stimmten dagegen. So eindeutig wäre eine solche Abstimmung wohl noch vor einigen Jahren nicht ausgefallen. Mit Standing Ovation wurde der Entschluss gefeiert.
Für mich persönlich war die Debatte und die Abstimmung über das Schuldbekenntnis eine Sternstunde der Synode der EKHN. Ich bin stolz auf meine Landeskirche und alle, die es ermöglicht haben, dass diese Entscheidung so eindeutig ausfallen konnte.
Diese Klarheit ist auch der Fachgruppe Gendergerechtigkeit und vielen Einzelpersonen zu verdanken, die im Hintergrund das Schuldbekenntnis mit ausformuliert und der Kirchenleitung vorgelegt haben.
Aber auch die Tatsache, dass in der EKHN seit 2002 gleichgeschlechtliche Paare im Gottesdienst gesegnet werden konnten und seit 2018 eine Trauung für alle Paare in Traugottesdiensten stattfinden kann, hat eine größere Sichtbarkeit und Selbstverständlichkeit im Umgang mit queeren Menschen und gleichgeschlechtlichen Paaren zur Folge gehabt.
Auch die Verabschiedung der Broschüre „Zum Bilde Gottes geschaffen – Transsexualität in der Kirche“, die die Fachgruppe Gendergerechtigkeit im Auftrag der Kirchenleitung vor fünf Jahren erarbeitet hat, hat den Horizont für viele erweitert und die kontroversen Debatten um eine Vielzahl von Informationen, Daten und Erfahrungen aus erster Hand erweitert.
Gastfreundschaft, Buntheit und Vielfalt tun Gemeinden gut. Das haben viele gelernt. Und Gottes Segen tut vielen Menschen auch gut, unabhängig von Herkunft, Hautfarbe, Alter, Geschlechtsidentität und sexueller Orientierung.
Die Arbeit mit dem Schuldbekenntnis geht nun aber erst richtig los. Denn: Das Schuldbekenntnis muss nun auch in den Kirchengemeinden, Gruppen und kirchlichen Einrichtungen bekannt gemacht werden. Es muss gefragt und diskutiert werden, was dieses Schuldbekenntnis jeweils vor Ort in den Gemeinden heißt und welche Verantwortung damit verbunden ist.
Schon in meinem Blogeintrag zum Buß- und Bettag im November 2022 schrieb ich dazu:
„Schuldbekenntnisse können keine Hassverbrechen in den Kirchen und keine spirituelle Gewalt ungeschehen machen. Sie können aber helfen, dass die Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen und Verletzungen der Opfer ernst genommen und die Stimmen der Opfer endlich gehört werden. Es ist ein wichtiger Schritt dahin, solche schmerzhaften Erfahrungen bearbeiten zu können. Dafür sind allerdings klare Worte notwendig: Schuldeingeständnis, Bekenntnis zur Verantwortungsübernahme, Buße, Gebet, veränderte Verhaltensweisen (Umkehr) und ggf. Entschädigungen bei justiziablen Übergriffen und Vergehen.“
Ein Schuldbekenntnis lebt eben auch davon, dass sich nicht nur eine Institution, sondern auch konkrete Menschen entschuldigen und Verantwortung dafür übernehmen, dass diskriminierende Worte und Taten benannt und verurteilt werden. Es muss aber auch daran gearbeitet werden, Verleumdungen, Ausgrenzung und Gewalt zukünftig zu verhindern, damit Kirchen und kirchliche Einrichtungen lokal, regional und überregional sichere Orte für alle werden.
Zum Weiterlesen
Das Schuldbekenntnis der EKHN gegenüber queeren Menschen (28.4.2023)
Im Wortlaut:
Schuldbekenntnis der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau gegenüber queeren Menschen
"Lesben, Schwule, Trans- und Intersexuelle haben in Gemeinden und Einrichtungen der EKHN Diskriminierung erfahren. Dem haben wir als Kirche nicht gewehrt. Schlimmer noch: Wir haben die Würde von Gottes Geschöpfen verletzt in Erklärungen und Verlautbarungen, welche sich einseitig auf ein nur binäres, heteronormatives und letztlich patriarchales Familienmodell bezogen. Diese Erklärungen und Verlautbarungen erkennen wir heute als Irrtum. Sie sind auch dann gegen die Frohe Botschaft des lieben- den Gottes gerichtet, wenn sie zu einer Zeit erfolgt sind, in der staatlicherseits queeren Menschen keine volle Gleichberechtigung zugebilligt wurde. Sie sind auch dann ein Irrtum, wenn sie als verbindlich und gut gedachte Lebensgemeinschaften wie Ehe und Familie schützen wollten. Es gibt Menschen, denen dadurch ihre geistliche Heimat genommen wurde und schwere Verletzungen zugefügt wurden, deren ehrenamtliche Mitarbeit in Gemeinden aufgekündigt bzw. nie aufgenommen wurde oder die ihren angestrebten Beruf zum Beispiel als Pfarrer*in, Gemeindepädagog*in oder Kirchenmusiker*in nicht angetreten haben. Viele andere haben sich versteckt.
Viel zu lange hat auch die EKHN die Vielfalt der Geschlechter, unterschiedlicher sexueller Orientierungen, Lebensweisen und Familienmodelle nicht geachtet, sondern zu begrenzen versucht.
Als Kirchenleitung und Kirchensynode bitten wir vor Gott und den Menschen dafür um Vergebung. Alle, denen wir damit Unrecht getan haben, bitten wir um Vergebung.
Der Weg der Anerkennung von queeren Menschen in der Kirche war langwierig und steinig. Wir haben ihn nicht immer freiwillig eingeschlagen, uns nicht selten drängen lassen und uns manches Mal sogar der gesellschaftlichen Weiterentwicklung verweigert. Auch in Hessen und Nassau haben wir jahrzehntelang, seit der Gründung 1947, Menschen durch Taten und Worte ausgegrenzt, verletzt, geängstigt und manchmal mundtot gemacht.
Kirchenleitung und Kirchensynode danken ausdrücklich allen Menschen, die an den Schritten zur Anerkennung queerer Menschen mitgewirkt haben. Betroffene haben durch ihren Mut und ihre Beharrlichkeit dafür gesorgt, dass das diskriminierende Verhalten gegenüber queeren Menschen sichtbar gemacht wurde. Sie haben mit Geduld und Offenheit diesen Weg zu mehr Vielfalt ermöglicht.
Wir glauben heute: Homosexualität, Bisexualität, Trans- und Intersexualität, non-binäre und queere Lebensformen sind ein Teil der Schöpfung. Von der Schöpfung sagt Gottes Wort „Siehe, es war sehr gut“ (1. Mose 1), und der Mensch kann zu Gott beten: „Ich danke dir, dass ich wunderbar gemacht bin. Wunderbar sind deine Werke, das erkennt meine Seele“ (Psalm 139). Dieser Lobpreis ist unabhängig von dem Geschlecht eines Menschen und von der sexuellen Identität oder Orientierung. Der Glaube an Jesus Christus befreit uns zu der Einsicht, dass Menschen mit all ihren Unterschieden in Christus erlöst und verbunden sind (Galater 3,28) und leitet an, alle Menschen in ihrer Würde zu achten und füreinander da zu sein. Gottes Geistkraft hat im Laufe der vergangenen Jahrzehnte zur Umkehr und zum Bekenntnis der Schuld gegenüber queeren Menschen geführt.
Die EKHN verpflichtet sich, die bestehende Vielfalt von Geschlechtern, unterschiedlicher sexueller Orientierung und Lebensweisen anzuerkennen und zu fördern. Damit ermöglicht sie verantwortliche und solidarische Lebensgemeinschaften für viele Menschen. Auch Lebensformen, die von der traditionellen Ehe abweichen, werden in ihren Gemeinden, Einrichtungen, Gottesdiensten und Verlautbarungen nicht mehr verschwiegen. Dadurch wird ein Coming-out erleichtert.
Dies findet auch Ausdruck im Leben der EKHN: Im Jahr 2002 wurde die Segnungen von gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften in der EKHN ermöglicht; im Jahr 2013 wurde die Gleichstellung von Segnung und Trauung beschlossen; im Jahr 2018 wurde die Eintragung in die Kirchenbücher von der Synode verabschiedet. Im gleichen Jahr wurde die Broschüre „Zum Bilde Gottes geschaffen – Transsexualität in der Kirche“ herausgegeben.
Dieses Schuldbekenntnis verstehen wir als einen weiteren wichtigen Schritt in diese Richtung. Als Menschen unterschiedlicher sexueller Orientierung, verschiedener Geschlechter und vielfältiger Lebenswei-sen wollen wir Kirche gestalten.
Darüber hinaus verpflichtet sich die EKHN, auch in der Debatte mit ihren ökumenischen Partner*innen für die Anerkennung dieser Vielfalt einzutreten. „Ökumenisch sind Kirchen dadurch, dass sie sich an Jesus Christus ausrichten und sich darin begegnen. Die kulturellen Muster, die auch in Kirchen in Fragen der Geschlechtlichkeit wirksam sind, sind im Leib Christi keine endgültigen Festlegungen. `Wer Gottes Willen tut´, sagt Jesus, `ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter´ (Mk 3,35). Alle sozialen Festlegungen auf der Grundlage der Zweigeschlechtlichkeit, wie etwa die Verweigerung der Trauung gleichgeschlechtlicher Ehepaare, sind deshalb kritisch zu hinterfragen. […] Der EKHN liegt viel daran, das ökumenische Gespräch im Geist der Geschwisterlichkeit weiter zu führen, stets wissend, dass Menschen auch irren können und auf den Geist der Wahrheit Gottes angewiesen sind“, heißt es dazu in der heutigen Lebensordnung (Ziffer 258)."