Am 27. Januar 2023 wird der Deutsche Bundestag in seiner Gedenkstunde zur Befreiung von Ausschwitz erstmals Menschen in den Mittelpunkt stellen, die in der Zeit des Nationalsozialismus wegen ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität gedemütigt, verfolgt und/oder ermordet wurden.
Schauspielerin Maren Kroymann und Schauspieler Jannik Schümann werden während der Gedenkstunde an die Schicksale von Mary Pünjer und Karl Gorath erinnern. Die lesbische Mary Pünjer wurde 1940 als "asozial" verhaftet und 1942 ermordet. Die Holocaust-Überlebende Rozette Kats wird sprechen und Klaus Schirdewahn wird als Vertreter all jener sprechen, für die die Verfolgung nicht mit 1945 endete.
Diese Gedenkstunde ist bemerkenswert. Für viele LSBTIQ+ Personen fühlt es sich an wie ein Einschnitt in die offizielle Vermessung deutscher Erinnerungskultur. Denn bisher stand die Opfergruppe der LSBTIQ+ Personen dabei nicht im öffentlichen Rampenlicht. Rainer Hörmann beschreibt es hier als „vielleicht wichtigstes Ereignis der queeren Community in diesem Jahr“. Auch für mich wird es ein emotionaler Tag werden. Denn für die Überlebenden LSBTIQ+ Personen war die Verfolgung nach Kriegsende nicht vorbei. In der Bundesrepublik galten die Sexualstrafgesetze der NS-Zeit weiterhin. Der Paragraph 175 wurde in der Bundesrepublik erst 1994 abgeschafft. In der DDR galt der Paragraph 175 bis 1988.
Beide Teile Deutschlands erkannten Schwule, Lesben und trans* Personen nicht als Opfer des Naziregimes an. Im Gegenteil, sie kriminalisierten sie weiterhin. Insofern konnte eine Erinnerungskultur, wie sie für andere Opfergruppen nach dem Krieg entstand, für LSBTIQ+ Personen lange Zeit nicht gestaltet werden.
Erst ab den 1980er Jahren wurde auf die Vielfalt der Haftgruppen in den NS-Konzentrationslagern hingewiesen, die auch lesbische schwule und trans* Personen umfasste. Erstmals wurde im Kontext der Schwulen- und Lesbenbewegungen gefordert, dass die Verfolgung lesbischer und schwuler Menschen dringend recherchiert und öffentlich thematisiert werden muss. Die Forschung zu trans* Personen im Nationalsozialismus steht dagegen noch ganz am Anfang.
Erst 2017 beschloss das Parlament im Bundestag das „Gesetz zur strafrechtlichen Rehabilitierung der nach dem 7. Mai 1945 wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen verurteilter Personen“. 72 Jahre hat die Rehabilitierung gedauert. 72 Jahre! Und ohne das Engagement von Persönlichkeiten, queerer Interessensverbände und Vereine wäre sie vielleicht bis heute nicht geschehen.
Auch die Kirchen haben ihre Mitschuld an Ausgrenzung, Verfolgung und Mord von LSBTIQ+ Personen viel zu spät erkannt und bis heute zu wenig öffentlich eingestanden. Ein offizielles Schuldbekenntnis beider großer christlichen Kirchen in Deutschland für kirchlich legitimierte Homo- und Transfeindlichkeit nicht nur im Nationalsozialismus steht weiterhin aus. Ich habe über die Notwendigkeit eines solchen öffentlichen Schuldbekenntnisses hier geschrieben.
Umso erfreulicher ist es, dass die Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF) ihre Predigthilfe und Materialien für Gottesdienste und Gemeindeaktionen zum 27.1.2023 dem Thema Verfolgung sexueller Minderheiten während der NS-Zeit widmen.
Unter dem Titel „Wo ist Abel“ (Genesis 4,7) veröffentlichten sie eine Predigtmeditation von mir und eine Liturgie zum Thema „Kain und Abel“ von Milena Hasselmann. Beide Entwürfe zeigen auf, was die biblische Geschichte mit dem 27. Januar zu tun hat. Durch Predigtmediation, Gebete und Gedichte wird ein Gefühlsraum von Schmerz und Verlust, Wut und Klage geöffnet. Ebenso finden sich Worte der Anklage und Trauer, ein Aufruf zur Besinnung, zum Schuldeingeständnis und zur Verantwortungsübernahme.
Über den langen Weg der Anerkennung und Rehabilitierung von lesbischen und schwulen NS-Überlebenden berichten Andrea Genest, Julia Noah Munier und Karl-Heinz Steinle in dem umfangreichen Materialband der ASF.
Außerdem kommen Zeitzeug*innen zu Wort, wie z.B. die lesbischen Influencerinnen und Youtuberinnen Ellen und Stefanie Radtke. Es gibt Literatur und Podcastempfehlungen, Gedichte von Hilde Domin und Else Laster-Schüler und Kunstwerke verschiedener Epochen zum Thema. Es folgen Reflexionen von Freiwilligen der ASF Arbeit. Die Einleitung der Geschäftsführerin Jutta Weduwen und ein persönliches Geleitwort von Anne Gideon, der Bevollmächtigten des Rates der EKD bei der Bundesrepublik Deutschland und der EU runden den Band ab.
Kurz, die Predigthilfe des ASF kann ich allen empfehlen. Nicht nur denen, die sich mit der Thematik weiter beschäftigen möchten und/oder einen Gottesdienst oder eine Andacht dazu feiern werden. Sie ist gut recherchiert und ein wichtiger Baustein für Kirchengemeinden und christliche Gruppen, die sich mit dem Thema der Verfolgung sexueller Minderheiten im Nationalsozialismus und mit der Verantwortung der Kirchen beschäftigen.
Zum Weiterlesen:
Rainer Hörmann, Gedanken zur Gedenkstunde (18.1.2023)
Lesben im Nationalsozialismus, Tagesspiegel ( 22.11.2017)
Homosexualität im Nationalsozialismus (mit einer umfänglichen Literaturliste, Originalquellen, Nennung namentlich bekannte Opfer der Verfolgung und Zeitzeug*innenberichte)