Matthias Albrecht
Die Regenbogenflagge ist ein Symbol für den Kampf für Gleichberechtigung von Menschen verschiedener sexueller Orientierungen und Geschlechter. In Katar, dem Austragungsort der Fußballweltmeisterschaft 2022, ist die Regenbogenfahne und der Kampf, für den sie steht, verboten.
Fußball-WM 2022 in Katar
Respekt? Wovor?
Wo Respekt vor der Kultur in Katar gefordert wird, geht es in Wahrheit oft um die Forderung, bei der Verfolgung von Menschen, die gleichgeschlechtlich lieben, wegzusehen. Dieser Euphemismus gehört enttarnt und zurückgewiesen.

Die Fußballweltmeisterschaft (WM) in Katar ist gestartet und die Debatten um ihre Legitimität laufen auf Hochtouren. Wohl keine andere WM hat in ihrem Vorfeld so heftige Diskussionen ausgelöst. Über die schweren Menschenrechtsverletzungen, die in dem Wüstenstaat systematisch begangen werden, ist mit steigender Frequenz in zahlreichen Medien berichtet worden. Menschen, die gleichgeschlechtlich lieben, werden in Katar kriminalisiert, nach der Scharia droht ihnen sogar die Todesstrafe. In Katar sind Menschenfeindlichkeit, Unterdrückung und Gewalt Staatsdoktrin. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass die Führung des Landes bereits im Vorfeld verkündete, dass Regenbogenflaggen dort verboten seien und falls Menschen diese mit ins Land brächten einkassiert würden. Offiziell heißt es, das geschehe zum Schutz derer, die die Fahnen tragen, doch der wahre Grund ist offensichtlich. Die Regenbogenflaggen als Symbol des Widerstandes gegen das Unrecht, das in Katar - und nicht nur dort - geschieht, sollen unsichtbar gemacht werden, ebenso wie all jene, die sich mit den Werten dieser Fahne identifizieren.

Der Emir von Katar, Tamim bin Hamad al Thani sagt in diesem Zusammenhang: "Wir erwarten Respekt für unsere Kultur". Und damit stößt das Staatsoberhaupt neben deutlicher Kritik auch auf Zustimmung in westlichen Ländern. So fordert der britische Außenminister James Cleverly, Fans, die sich als lesbisch, schwul, bisexuell oder transgeschlechtlich identifizieren, auf, "die Kultur des Gastlandes zu respektieren". Auch der Kapitän der französischen Nationalmannschaft Hugo Lloris argumentiert ähnlich. Auf Nachfrage verneint er, bei den WM-Spielen die sog. One-Love-Kapitänsbinde tragen zu wollen und erklärt: "Wenn man Ausländer in Frankreich aufnimmt, möchte man, dass sie sich an unsere Regeln halten und unsere Kultur respektieren. Das werde ich auch tun, wenn ich nach Katar gehe […] ich werde Respekt zeigen". Unisono wird hier Respekt vor einer Kultur eingefordert. Ein Anliegen, das auch in den sozialen Medien teilweise auf Beifall stößt.

Respekt und Kultur: Das sind zwei gleichermaßen abstrakte wie auch aufgeladene Begriffe. Respekt, so schreibt der Duden, meint eine auf " Bewunderung beruhende Achtung". Kultur definiert dieselbe Quelle als "Gesamtheit der geistigen, künstlerischen, gestaltenden Leistungen einer Gemeinschaft als Ausdruck menschlicher Höherentwicklung".  Bei den Äußerungen des Emirs, des Außenministers und auch des Nationalmannschaftskapitäns fällt auf, dass sie nicht begründen, warum Respekt vor der Kultur geleistet werden soll. Das klingt so, als handle es sich hier um ein Axiom. Also eine unumstößliche Wahrheit, die keines weiteren Beweises mehr bedarf: Ein unbedingter Anspruch, dass einer Kultur, einfach weil sie existiert, Respekt zusteht. Ein Blick auf die Geschichte und Gegenwart der Menschheit zeigt, dass ein solcher Anspruch nicht haltbar ist. Würde jeder gestaltenden Leistung einer Gemeinschaft eine auf Bewunderung beruhende Achtung zustehen, dann müsste dies auch für die Folter in Guantanamo, die Apartheit oder - am drastischsten - den Holocaust gelten. Diese Beispiele zeigen, dass menschliche Kultur auch Dinge hervorbringen kann, die nicht Respekt, sondern Widerstand, Ächtung und Bekämpfung verdienen.

Anders verhält es sich mit der Bewertung einzelner kultureller Leistungen, die die Menschen in einem Land geschaffen haben. Selbstverständlich kann der amerikanischen Verfassung, der südafrikanischen Bürger:innenrechtsbewegung, der Architektur der saudi-arabischen al-Har?m-Moschee oder historischer Musik aus Katar Respekt entgegengebracht werden. Die Frage ist ja nicht, ob eine Kultur respektiert wird, sondern was an der Kultur respektiert wird. In den angeführten Zitaten von Tamim bin Hamad al Thani, Cleverly und Lloris wird der Begriff Kultur unbestimmt verwendet. So als wäre die Frage des Respekts vor der Kultur eine dichotome. Als hinge alles, was die Gesellschaft in Katar je hervorgebracht hat, sei es eine kulinarische Spezialität oder die dort drohende Folter, so untrennbar zusammen, dass es nur die Wahl gäbe, entweder beides gut zu finden, oder gar nichts von beidem und mit Letzterem jeden Menschen, der in dem Wüstenstaat lebt, persönlich zu diffamieren. Eine perfide Taktik, die, gemessen am Zuspruch in diversen Kommentarspalten und Threads, nicht ganz ohne Erfolg zu sein scheint. Auf diese Weise wird das vermeintlich ganz harmlose sowie mehr als angemessen scheinende Bild eines höflichen Gastes gezeichnet. Ein höflicher Gast, der sich zu benehmen weiß und alle anderen, die das Land gemeinsam mit ihm besuchen, bittet, doch ebenso respektvoll zu sein wie er. Es gibt allerdings einen gewaltigen Unterschied dazwischen, ob ich irgendwo zu Gast bin und mich an die Bitte halte, dort meine Schuhe auszuziehen, um keinen Dreck in der Wohnung zu hinterlassen oder aber tatenlos zusehe, wie der Gastgeber seine Frau blutig schlägt, weil das eben in diesem Haushalt nun mal so ist. Aus diesem Grund sollten Tamim bin Hamad al Thani, Cleverly, Lloris und die vielen, die ihnen Beifall klatschen, doch auch bitte konkret benennen, vor was für einem Aspekt der katarischen Kultur sie Respekt einfordern. Sie zollen und verlangen Respekt vor der Kriminalisierung, Verfolgung und drohenden Folterung von Menschen, die gleichgeschlechtlich lieben. Den Mut, genau das zu sagen, was sie meinen, den haben die benannten Herren und ihre Gefolgschaft offenkundig aber nicht. Warum? Respekt für Kriminalisierung, Verfolgung und drohende Folter, ja das klingt nicht gut. Zitate mit diesem Inhalt, die machen sich auch nicht gut in den internationalen Medien, bei vielen britischen Wähler:innen oder der Mehrheit französischer Fußballfans. Und das sich das nicht gut macht, das hat Gründe. Denn es ist falsch. Es ist nicht ethisch, ja, es ist sogar verabscheuungswürdig, den Bruch der Menschenrechte zu protegieren. Wer so spricht, der stellt sich übrigens nicht nur gegen die Menschenrechte, sondern auch offen gegen das Evangelium von Jesus Christus.

Unbeschadet dessen, ist es selbstverständlich möglich, eine solche Meinung zu vertreten, es gilt das Recht der freien Meinungsäußerung. Aber machen wir das, was eigentlich gemeint ist, doch dann auch bitte explizit und nutzen keine Chiffren wie den Begriff der Kultur, um das, was wirklich ausgesagt werden soll dahinter zu verbergen. Dadurch wird schließlich das möglich, was ganz offensichtlich zu vermeiden versucht wird: Eine öffentliche Debatte. Eine Debatte darüber, wer und was Respekt verdient. Als Christ sage ich, der Respekt gilt jenen Menschen, denen tagtäglich versucht wird, ihre Würde zu nehmen, in dem sie für ihre Liebe, ihr Begehren und ihre Familien verfolgt werden. Und er gilt den kulturellen Leistungen derer, die sich dafür einsetzen, dass diese Verfolgung endet.