Die Kirchen, so das Ergebnis einer ARD-Umfrage zum Wir-Gefühl in Deutschland, "spielen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt heute nur noch eine vergleichsweise kleine Rolle". 27 Prozent der Befragten sind der Ansicht, dass Kirchen einen angemessenen Beitrag zum Zusammenhalt leisten. 76 Prozent trauen das Sportvereinen, Kultur-/Freizeiteinrichtungen zu. Allgemein schätzt eine Mehrheit den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland als "eher schlecht" bis "sehr schlecht" ein. (Link zur Umfrage)
Dem Zweifel am 'großen' Wir steht allerdings ein geradezu phänomenales Vertrauen ins 'kleine' Wir entgegen: Satte 90 Prozent finden das Miteinander in der Familie, im Freundes- und Bekanntenkreis "sehr gut / eher gut". Was die Frage aufwerfen könnte, wozu es eigentlich des großen gesellschaftlichen Wir bedarf, wenn es privat doch läuft?
Braucht es das große Wir in der (evangelischen) Kirche? Braucht es das große Wir in der queeren Community? Kommt ein Wir ohne ein Ihr aus, also ohne, dass etwas "Anderes" ausgeschlossen wird? Und wo ist in diesem Wir der Platz der queeren Christ:innen, einer Minderheit in der Minderheit?
Exemplarisch und aus aktuellen Gründen sei das Beispiel der Initiative #OutInChurch genannt. Anfang des Jahres (siehe Beitrag in "kreuz&queer" vom Januar) machte sie, vor allem durch eine in der ARD gezeigten Dokumentation "Wie Gott uns schuf" auf sich aufmerksam: Es war ein gemeinsames Coming-out von in der katholischen Kirche tätigen queeren Menschen, verknüpft mit der Forderung nach einem (nicht nur arbeitsrechtlichen) Ende von Diskriminierung und Benachteiligung.
Die Intitiative erfuhr große Aufmerksamkeit, breite Unterstützung - auch von der evangelischen Kirche und auch hier im kreuz&queer-Blog. Anfang November wurde die Dokumentation sogar mit dem katholische Medienpreis bedacht - verliehen durch die Deutsche Bischofskonferenz in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft Katholischer Publizisten und dem Katholischen Medienverband.
Kam nur bedingt gut an bei der Initiative, die in einer Pressemitteilung beklagt, dass bislang keine ihrer Forderungen erfüllt ist und niemand von #OutInChurch bei der Preisverleihung als offizielle Vertretung sprechen durfte. "Wieder einmal werden die Menschen, die der Film 'Wie Gott uns schuf' dokumentiert, nicht als für sich selbst sprechende Subjekte, sondern als
Objekte ohne eigene Stimme behandelt."
Soviel zum Wir im Wir der (katholischen) Kirche. Natürlich erhielt #Outinchurch auch große Zustimmung aus der queeren Community, denn es gibt ein breites Bewusstsein von der jahrhundertelangen Ausgrenzung durch die christlichen Kirche und eine große Wut über anhaltende Versuche katholischer wie evangelikaler Strömungen, Homosexualität, neuerdings auch Transgender, für alles Übel in der Welt verantwortlich zu machen.
Kommentare in queeren Medien zeigten aber auch Unverständnis, wieso man in einer Kirche arbeitet, die einen nicht will und seit Jahrhunderten als Sünde geißelt. Zum Trend der Abkehr von den Kirchen gesellt sich mitunter der Vorwurf der Rückständigkeit von queeren Christ:innen ("Religioten") nebst der Anklage, als Teil eines Unterdrückungssystems zu handeln und es dadurch zu stärken.
Was die queere Community oft zusammenhält, das ist nach wie vor die Abwehr, der Widerstand gegen Diskriminierung, gegen rechtliche Schlechterstellung. Das ist ein starkes Moment, eins, auf das "Wir" zurecht stolz sein können. Dann aber mäandert auch die queere Gemeinschaft wieder auseinander. Sicher würde bei einer Umfrage unter LGBTIQ*, was zu "unserem" Zusammenhalt beiträgt, eine große Mehrheit - ganz wie die Heteros! - antworten: Kultur, Freizeit, Sport. Vielleicht gibt es ein Bedürfnis nach Spiritualität, aber wohl eher, so vermute ich, als Patchwork und nicht als dezidiert christliche Religion.
Letzten Endes ist das große Wir ein Konstrukt, das vereinheitlichen soll, was schon immer divers war. Es ist niemals statistisch und immer nur temporär. In der Lebenswelt zeigt es sich eigentlich nur in Augenblicken, kurzen Phasen des gemeinsamen Handelns, manchmal nur als emotionales Erlebnis in der Gemeinschaft mit anderen. Das mögen Aktionen wie die beschriebene Intitiative #OutinChurch sein, das mögen Rituale sein wie CSD-Paraden oder der Besuch von queeren Gottesdiensten, die ihrerseits auf eingeübte Rituale christlicher Liturgie zurückgreifen. Das ist dann eben auch das kleine, beschaulich-überschaubare Wir, die queere Familie, die queeren Freund:innen, vielleicht ja auch der "ganz normale" Sonntagsgottesdienst, in dem man sich von der Gemeinde angenommen fühlt.
In beidem, dem großen wie kleinen Wir, steckt immer eine Sehnsucht nach Zugehörigkeit, nach, wenn man so viel, einer Utopie - und stets eine Portion Glaube.